Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück

Unlikeable Female Characters: The Women Pop Culture Wants You to Hate

Sie sind zu anstrengend, zu lüstern, zu ambitioniert, zu mörderisch – und damit schlicht «unlikeable». Frauen, die konventionellen Rollenvorstellungen widersprechen, gab es in der Filmgeschichte zwar schon immer. Aber abgesehen von der so kurzen wie glorreichen Hollywood-Pre-Code-Ära, kommen sie damit erst seit den 2000er-Jahren ungeschoren davon. Das befreiende und identitätsstiftende Potenzial von herausfordernden, komplexen und damit realistischen Frauenfiguren ist im Mainstreamkino angekommen und wird von Publikum und Presse zu Recht gefeiert. Die britische Autorin Anna Bogutskaya begleitet in ihrem erfrischenden Buch «Unlikeable Female Characters: The Women Pop Culture Wants You to Hate» solche Frauen durch die letzten 100 Jahre Filmgeschichte. Gemeinsam mit dem Filmpodium hat sie diese Retrospektive kuratiert und kommt für eine Lecture nach Zürich. Mit dem Regie-Duo Carmen Jaquier und Jan Gassmann wird sie zudem in einem Podiumsgespräch über dessen Film Les paradis de Diane (Schweiz, 2024) diskutieren. «Unlikeable» ist ein schwieriges Wort. Kein deutsches Synonym greift, was es im Englischen meint. Dazu kommt, dass der Begriff mit vielen Konnotationen und Erwartungen belegt ist. Selten, wenn überhaupt, werden Männer als «unlikeable», also als «unsympathisch» oder gar «unangenehm», bezeichnet. Sie sind «schwierig», «schrecklich», «problematisch», aber ihre Sympathie wird nie infrage gestellt. Selbst im Jahr 2024 kann ein Projekt von Sofia Coppola mit Florence Pugh in der Hauptrolle noch daran scheitern, dass die Protagonistin als «zu unsympathisch» gilt. Die herrschenden Vorurteile scheinen sich trotz zahlreicher Kassenerfolge und Auszeichnungen irgendwie nicht ausräumen zu lassen.
Ich habe mein Buch «Unlikeable Female Characters: The Women Pop Culture Wants You to Hate» aus Frustration über den Begriff der «starken Frauenfiguren» geschrieben. Was soll das heissen? Dass alle Frauen stark sein müssen? Ist eine Figur schlecht, wenn sie nicht hart im Nehmen, erfolgreich oder selbstbewusst ist? Stark bedeutet nicht zwangsläufig filmisch interessant oder fesselnd. Ich will Drama. Konflikte. Komplexität. Und manchmal bedeutet das, dass die Charaktere gerade nicht perfekt und alles andere als stark sind. In dieser Filmreihe geht es um solche Figuren, um Frauen, die in irgendeiner Weise zu viel sind: zu mächtig, zu gierig, zu lüstern, zu verrückt, zu gemein, zu laut.

Die neuen Lieblingsschurkinnen
Unsympathische Frauenfiguren, vor allem jene aus Hollywood, sind Frauen, die Männer entweder wirtschaftlich, sozial oder emotional dominieren. Seit den Anfängen des Kinos gibt es Variationen dieses Typs. Die zensurfreie Pre-Code-Ära war ein frühes goldenes Zeitalter solch furchtloser Protagonistinnen. Selbst aus heutiger Sicht wirken sie erstaunlich modern. Sie waren oft gierig, rücksichtslos in ihren Absichten und ihrer Leidenschaft. Damit empörten sie das Publikum. Baby Face (1933), in dem eine junge Frau ihr Aussehen nutzt, um in der Gesellschaft aufzusteigen, ist einer der Filme, die für die Einführung des Hays Code verantwortlich gemacht werden.
Mae West war mit ihrem explosiven und bissigen Humor für kontroverses Verhalten bekannt. Sie hatte sogar einige Zeit im Gefängnis verbracht, weil sie ein Theaterstück mit dem Titel «Sex» inszeniert hatte. Später wurde sie zu einem der bestbezahlten Drehbuchstars Hollywoods. I’m No Angel (1933), bei dem sie sich die Hauptrolle sozusagen auf den Leib geschrieben hatte, war ihr letzter Film, der nicht den strengen Zensoren zum Opfer fiel.
In den folgenden Dekaden, bis zum Aufkommen von New Hollywood in den 1970er-Jahren, waren unsympathische Frauenfiguren verschiedenen moralischen Wertvorstellungen unterworfen. Sie konnten zwar aus der Reihe tanzen, aber sie mussten am Ende bestraft werden, entweder mit sozialer Ächtung oder dem Tod. Dennoch gab es sie: Im mexikanischen Drama Doña Bárbara (1943) schreckt die gleichnamige Protagonistin nicht davor zurück, das Leben der Männer um sich herum zu ruinieren – nur um sie so leiden zu sehen, wie sie unter ihnen gelitten hat. Und im düsteren Melodram (dem typischen Terrain der unsympathischen Frauen) Leave Her to Heaven (1945) spielt Gene Tierney eine Figur, deren romantische Besessenheit ihr zum Verhängnis wird.
Als der Hays Code ausser Kraft gesetzt wurde, erfand Hollywood vertraute Genres neu, begrüsste moralisch zwielichtige Charaktere – und liess sie oft mit ihrem Fehlverhalten davonkommen. Nur wenige dieser Figuren ähneln wahren Schurkinnen à la Cruella de Vil. Viel eher sind sie heimtückischer Natur; sie arbeiten mit Lügen und spielen mit Täuschungen – entweder zu ihrem Vorteil oder zu ihrem Vergnügen. Die Marquise de Merteuil in Dangerous Liaisons (1988) lässt sich aus reiner Bosheit auf ein riskantes Spiel mit einem früheren Liebhaber ein, der sie einst verschmäht hatte. Pedro Almodóvars Tacones lejanos (1991) dagegen erfindet das Melodrama als Kampf zwischen einer ehrgeizigen, abwesenden Mutter und einer mörderischen Tochter neu. Bridget Gregory in The Last Seduction (1994) ist eine direkte Nachfahrin der Femmes fatales des Film noir. In ihrem Blut fliesst ein ordentlicher Schuss der «Gier ist gut»-Philosophie der 1980er-Jahre, was sie zu einer der skrupellosesten Figuren macht, die je auf der Leinwand zu sehen waren.
Im letzten Jahrzehnt haben wir eine Zunahme komplizierter, nicht klassifizierbarer Hauptdarstellerinnen erlebt. Ich zögere, sie als «unlikeable» zu bezeichnen, da sie vom Publikum, den Kritikern und der Branche gleichermassen geliebt werden. Vielleicht gibt es in der Hinsicht keinen einflussreicheren Film als Gone Girl (2014), der auf dem Weltbestseller von Gillian Flynn basiert. Der Film erzählt die Geschichte der Entführung von Amy Dunne, einer zwielichtigen Protagonistin, die mit unseren Erwartungen an ein perfektes Opfer spielt: reich, weiss, blond und schön. Der ganze Film (bis hin zum Meta-Casting von Ben Affleck als Amys untreuer Ehemann) ist eine Meditation darüber, was Sympathie bedeutet und wie sie sich Geld, Geschlecht, Rasse und sozialer Status darin widerspiegeln.

Machtstatus
Im Kern geht es bei «unlikeability» um Macht: wer sie hat, wer sie nicht hat und was man tun kann, um sie zu bekommen. Dazu gehört auch, was es für Frauen bedeutet, Macht auszuüben. In Whatever Happened to Baby Jane? (1962) bedeutet Macht Schönheit, Jugend und Ruhm. Zwei ehemalige Schauspielerinnen sitzen gemeinsam in ihrer heruntergekommenen Hollywoodvilla fest und lassen bittere alte Erinnerungen aufleben. Der Film, der mit Joan Crawford und Bette Davis von zwei der grössten Hollywoodstars ihrer Generation getragen wird, ist beispiellos in seiner Darstellung von Ressentiments und weiblicher Wut. Ihr Zorn gilt der Tatsache, dass sie ausrangiert wurden. Die Filmindustrie, die sie einst feierte, interessiert sich schon lange nicht mehr für sie.
In Baise-moi (2000) ist Macht eine Waffe: Hinter dem provokanten Titel verbirgt sich die blutgetränkte Rachegeschichte zweier Sexarbeiterinnen, die einen Amoklauf durch Frankreich planen. Und in Lady Macbeth (2016) ist Macht Klasse: Eine frustrierte und gelangweilte Ehefrau im 19. Jahrhundert (Florence Pugh in ihrer ersten grossen Rolle) beginnt eine Affäre und reisst damit alle Menschen um sich herum ins Verderben.
Zudem lässt sich Macht auch erlernen. In der Highschool nimmt sie die Form eines bösen Mädchens an – eine Figur, die in allen Teenager-Medien auftaucht. Aber nur wenige waren so schwarzherzig wie die jungen Frauen in Heathers (1988), der Teeniekomödie schlechthin. Der Film existiert in einem zeitlichen Vakuum, in dem böse Mädchen und Mord untrennbar miteinander in Verbindung stehen.

Die Freude am Nichtstun
Aber das, was wir manchmal als unsympathisch bezeichnen, kann auch eine Frage des Unbehagens den eigenen Gefühlen gegenüber sein. Die Figuren in diesen Filmen wehren sich oft gegen überholte Normen. A Woman Under the Influence (1974) und Under the Skin (1997) wirken wie zwei Seiten derselben emotionalen Medaille. Im ersten Film gibt Gena Rowlands eine erschütternde Darstellung als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Im zweiten nimmt uns Samantha Morton mit auf die selbstzerstörerische Reise einer Tochter, die nach dem Tod ihrer Mutter auf sich allein gestellt ist. Beide Frauen implodieren. Ein dritter Film, Huesera (2022), nutzt das Horrorgenre, um das Unbehagen seiner schwangeren Protagonistin über das ihr bevorstehende Mutterdasein zu erforschen – was an sich schon ein Tabu darstellt.
Aber unsympathische Frauenfiguren machen Spass. Das aktuelle Kino hat eine tiefgreifende, subversive Freude an komplizierten Hauptfiguren gefunden: Tár (2022) etwa zeigt den Abstieg einer Dirigentin, deren Missbrauchsmuster ans Licht kommen, in Anatomie d'une chute (2023) wird eine Schriftstellerin nicht nur wegen Mordes, sondern auch wegen ihrer «likeability» (oder des Mangels derselben) vor Gericht gestellt, und in Poor Things (2023) begibt sich die Frankenstein-ähnliche Schöpfung Bella Baxter auf eine sexuell gesteuerte Selbstfindungsreise, auf der alles neu, interessant und lebendig erscheint. Bella ist herrlich frei von den Regeln und der Scham, die gewöhnlich mit weiblichen Figuren einhergehen. Wenn sie das unsympathisch macht, dann soll es so sein.

Anna Bogutskaya

Anna Bogutskaya ist Filmkuratorin, Kritikerin und Autorin von «Unlikeable Female Characters: Women Pop Culture Wants You to Hate».