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Henri-Georges Clouzot: Lohn der Angst

Der Weg ins Verderben ist für die Figuren in Henri-Georges Clouzots Filmen nie weit. Eine flüchtige Bekanntschaft, eine schnell gefällte Entscheidung oder einfach nur am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein reicht aus, damit Clouzots Protagonist:innen in eine perfekt erzählte und inszenierte Thriller-Maschinerie geraten. Clouzot war eine Schlüsselfigur des französisches Kinos der 1940er- und 50er-Jahre, seine Filme wie Le corbeau oder Le salaire de la peur begeisterten (wie verstörten) das Publikum und übten einen immensen Einfluss auf nachfolgende Generationen von Filmemacher:innen aus. Das Filmpodium widmet diesem Meister des Kriminalfilms eine umfassende Retrospektive und zeigt alle seine Langfilme sowie den auf seinem letzten, unvollendeten Werk basierenden Dokumentarfilm L’enfer d’Henri Georges Clouzot. Ein grosser Bewunderer von Clouzots Schaffen ist der Schweizer Regisseur Pierre Monnard (Platzspitzbaby, Bisons). Am 14. September spricht er anlässlich der Aufführung von Les diaboliques über den Einfluss und die Inspiration, den dieser Film auf seine eigene Arbeit hat. «Dieses monstre sacré», stellt die Erzählerstimme am Anfang von L’enfer d’Henri-Georges Clouzot (2009) bestimmt fest, «war einer der grössten Regisseure der Filmgeschichte.» Zum Beweis nennt sie fünf der Meisterwerke von Clouzot, darunter natürlich auch Le salaire de la peur (1953) und Les diaboliques (1955). Was folgt, wird jedoch vom Scheitern handeln: jenem der Dreharbeiten zum Eifersuchtsdrama L’enfer mit Romy Schneider, mit dem Clouzot 1964 nichts weniger als sein «absolutes Meisterwerk» schaffen und mittels nie gesehener, psychologisch motivierter Kameratricks die Filmsprache revolutionieren wollte. Das Projekt kam zu einem abrupten Ende, als erst der vergraulte Hauptdarsteller das Set verliess und der Regisseur kurze Zeit später einen Herzinfarkt erlitt. Serge Brombergs und Ruxandra Medreas Dokumentarfilm, der zu grossen Teilen aus Clouzots Kameraexperimenten besteht, lässt erahnen, dass diese Ambition gar nicht so unrealistisch war. Und auch, dass die im Französischen so geläufige wie unübersetzbare Bezeichnung des «monstre sacré» auf kaum jemanden so zugeschnitten ist wie auf Clouzot.

Kollaboration oder Subversion?

Geboren 1907 als Sohn eines Buchhändlers ganz im Westen Frankreichs, blieb ihm seine angestrebte Marinekarriere aufgrund von Kurzsichtigkeit verwehrt. Auch das Jurastudium an der Science Po musste er, als die Weltwirtschaftskrise den Familienreichtum vernichtete, abbrechen. Also wurde er Journalist, Filmeditor und Drehbuchbearbeiter und ging alsbald – 1932 – nach Berlin, wo er französische Fassungen deutscher Filmproduktionen erstellte. Zur baldigen Abreise zwangen ihn zwei Jahre später sowohl die politische Situation – Clouzot war, als Goebbels bereits die Kontrolle über die Universum-Film Aktiengesellschaft (UFA) übernommen hatte, mit jüdischen Produzenten befreundet – als auch die Tuberkulose, die ihn mehrere Jahre in Sanatorien immobilisieren sollte. Dort las er «tausende Bücher» und eignete sich einen ausgeprägten Sinn für Dramatik und ein ausgesprochen tragisches Welt- und Menschenbild an. Einige Zeit und einen Einmarsch nationalsozialistischer Besatzungstruppen später findet sich Clouzot als Drehbuchautor und Regisseur für die deutsche Produktionsfirma «Continental Films» unter der Leitung Alfred Grevens in Paris wieder, für den er nebst verschiedenen Drehbucharbeiten seine ersten beiden Spielfilme erstellte. Auf das ziemlich unterhaltsame «whodunit» L’Assassin habite au 21 (1942), von manchen bereits als frühes Meisterwerk bezeichnet, folgt mit Le Corbeau (1943) eine bemerkenswert subversive Abrechnung mit der französischen Denunziationsgesellschaft. Eine Serie von anonymen Briefen, deren unbekannte:r Verfasser:in über alle schmutzigen Geheimnisse im Dorf Bescheid zu wissen scheint, vermag es, die Stimmung in einer Kleinstadt – gelinde gesagt – zu trüben. Ähnliches galt auch für Clouzots Ansehen bei der «Commission d’Épuration» nach der Libération, die ihm Kollaboration vorwarf und mit einem lebenslangen, später auf zwei Jahre reduzierten Berufsverbot belegte. Zwar scheint niemand ernsthaft der Meinung gewesen zu sein, dass Clouzots bitterbös- negatives Porträt des französischen Gemeinsinns unzutreffend sei, bloss dass die Okkupationszeit der denkbar unangemessenste Moment dafür war. Die Idee einer politisch-ideologischen Kollaboration Clouzots bezeichnete unter anderem sein Bruder Marcel als komplett absurd. Der einzige Ismus, mit dem sich sein apolitischer Bruder je identifizieren würde, sei der «Clouzotismus».

Keine Rettung

Was diesen ausmacht, lässt sich in Clouzots nächsten Filmen beobachten. Im populären Eifersuchtskrimi Quai des Orfèvres (1947) etwa, mit dem er nicht zum letzten Mal eine seiner grössten Stärken unter Beweis stellte: wie damals Hitchcock und heute Fincher mittels perfekter Inszenierung und Schauspielerführung einen wenig plausiblen Krimiplot reibungslos zu vermitteln. Gleich darauf gelang es ihm in Manon (1949) überraschend erfolgreich, Abbé Prévosts Erzählung der Manon Lescaut aus dem frühen 18. Jahrhundert in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zu transportieren, wobei der Film trotz Kriegsende kaum Optimismus vermittelt. Die zentrale Liebesbeziehung ist von Exzessen, Betrug und Misstrauen geprägt, während Hauptwie Nebenfiguren fast ausschliesslich auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Eine meisterhaft misanthropische Sequenz, in der die Protagonistin in einem überfüllten Zug nach dem Geliebten sucht, zeigt ein Panorama der französischen Nachkriegsgesellschaft, die jeglichen Sinn für Empathie und Hilfsbereitschaft verloren hat. Selbst die geglückte Flucht in eine neue Welt – in Clouzots Version liegt diese in Palästina – verheisst keine Rettung. Kurzwährende Glücksarrangements, gefolgt von einem versöhnlichen (und sehr ästhetischen) Pathos im Tod sind das Höchste, was eine Figur in einer vom Clouzotismus bestimmten Welt von ihrem Schicksal erwarten darf.

Überwältigende Methoden

Ähnlich konsistent scheinen auch – zumindest Aussagen zahlreicher Mitarbeiter:innen zufolge – Clouzots Methoden gewesen zu sein, um jenen besonderen Affekt zu erreichen, mit dem er auch über die düstersten Handlungsverläufe zu faszinierenden, oft ästhetisch überwältigende Kunstwerken gelangen konnte. Allem Anschein nach war Clouzot auf seinen Filmsets ein Tyrann, der gerne auch mal zu «folterähnlichen» Methoden griff. Regelmässig soll er seine Schauspielerinnen (seltener die Männer) geschlagen haben, um den richtigen emotionalen Ausdruck in ihr Spiel zu bringen. Brigitte Bardot erinnert sich an ganze Schlagabtausche, an psychologische Grausamkeiten und daran, wie ihr einmal der Magen ausgepumpt werden musste, nachdem ihr Clouzot statt des behaupteten Aspirins zwei starke Schlaftabletten gegeben hatte, um für La vérité (1960) eine glaubwürdige schläfrige Darstellung von ihr zu erhalten. Als exzessiven und aufdringlichen Mann, «der alle Schauspieler völlig unter seiner Kontrolle haben wollte und mehr von ihnen verlangte, als sie jemals vorher gegeben hatten», beschreibt ihn eine Nebendarstellerin von La prisonnière. «Mais», fügt sie schwärmerisch an, «quel résultat!»
Resultate wie Le salaire de la peur : ein eher misanthropisches Action-Meisterwerk über Männer, die aus ökonomischer oder existenzieller Not zwei Lastwagen voller Nitroglycerin, das jederzeit zu explodieren droht, durch eine südamerikanische Wüstenlandschaft steuern. Dieses waghalsige Unterfangen – für Figuren in einem nihilistischen Actionfilm zumindest ist es die denkbar schlechteste Idee – vermag Clouzot gerade dank der relativ einfachen Ausgangslage gradlinig und mit sparsam eingesetzten Mitteln in eine Spannung zu übersetzen, die in der Filmgeschichte immer noch Vergleichbares sucht. Wieder zwei Jahre später schuf er mit Les Diaboliques (1955), basierend auf einem Buch, das auch Hitchcock verfilmen wollte, das perfekte filmische Puzzle: Zwischen drei Figuren, einer Badewanne und einem Swimmingpool entwickelt sich eine morbid-elegante filmische Maschinerie mit düster-schönen Zahnrädchen, die sämtliche psychologische Unglaubwürdigkeit unwesentlich machen.
Vielleicht passt allgemein die Maschinenmetapher ganz gut zu Clouzot, wenn man bedenkt, dass es oft die von Technologie gerahmten Bilder sind, die nachwirken: die Zugfahrt und der Mord im Kinokeller in Manon, die monströsen Lastwagen von Le Salaire de la peur, ja selbst die kafkaeske Überwachungsparanoia von Les espions (1957), der gemeinhin als Misserfolg gilt («als metaphysische Fabel zynisch und nihilistisch, als Thriller sinnlos verquer und prätentiös»), der aber gerade in dieser Inkongruenz irgendwie zeitgemäss wirkt. Verschiedene – metaphorische, psychologische, kulturelle – Ebenen, die sich zueinander verhalten müssen, die sich aneinander reiben, einander bedingen: La Prisonnière (1968), Clouzots letzter Film, ist geradezu besessen davon, Bilder für dieses produktive Nichtzueinanderpassen zu finden. Auf der Handlungsebene mag es um moderne kinetische Kunst gehen, die Clouzot überdies Gelegenheit bietet, die Kamerastudien von L’enfer zu rezyklieren. Dahinter steht vielleicht aber auch ein finaler filmischer Blick Clouzots auf das eigene Leben und Werk. Das Monströse und das Heilige: Bei Clouzot scheint sich das gegenseitig zu bedingen.
Dominic Schmid

Dominic Schmid hat Filmwissenschaft und Japanologie in Zürich und Berlin studiert und arbeitet als freier Filmkritiker, Videothekar und Moderator zwischen Biel und Zürich.