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Pedro Costa: Leuchtende Schatten

Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, ausgeschlossen und unsichtbar, stehen im Mittelpunkt der Filme von Pedro Costa. Sie kämpfen mit den Ungerechtigkeiten des Alltags, wehren sich gegen Armut und trauern Verschollenen nach. Die Filme, die Pedro Costa zusammen mit ihnen erschaffen hat, gehören zum Aussergewöhnlichsten, was man im internationalen Kino sehen kann. Wie kaum einem anderen Regisseur gelang es Costa, mit seinen digitalen Kameras überaus eindringliche Bildwelten, ja genuine filmische Gemälde zu erschaffen, die dem Leben seiner Protagonist:innen mit grosser Würde begegnen. Seit 1989 dreht Pedro Costa Langfilme – wir präsentieren alle in unserer Retrospektive. Ganz besonders freuen wir uns, Pedro Costa am 18. und am 19. Oktober im Filmpodium begrüssen zu dürfen. In einem ausführlichen Werkstattgespräch wird er einen Einblick in seine Arbeit geben und erläutern, wie er Ende der 1990er-Jahre seine Auffassung vom Filmemachen komplett überdachte. Pedro Costa, 65 Jahre, geboren in Lissabon, Beruf: Filmemacher. Einmal hat er gesagt, seine Filme seien wie Häuser. Es gebe ein Fundament, Wände, Zimmer, Flure, ein Bett, Fenster, Verstecke, ein Dach. Es stecke viel Arbeit in der Errichtung eines solchen Hauses. Neun Langfilme und einige Kurzfilme hat er seit seinem Debüt O Sangue (1989) realisiert, einem somnambulen, betörenden Film über perspektivlose Jugendliche. Seine ersten drei abendfüllenden Arbeiten entsprechen den gängigen Vorstellungen europäischen Autorenkinos auf höchstem Niveau, darunter auch der auf den Kapverdischen Inseln, einer Hunderte Kilometer vom afrikanischen Festland entfernt liegenden vulkanischen Inselgruppe im Atlantik, angesiedelte Casa de Lava (1994). In diesen frühen Filmen Costas offenbart sich eine filmische Sprache, die nach den feinsten Regungen sucht, danach, was den Menschen zum Menschen macht. Hier sind die Schweigenden die Schönsten, die Outlaws am sensibelsten. Auf den Kapverden setzte sich dann etwas in Bewegung für den ehemaligen Studenten von António Reis, einem wichtigen portugiesischen Lyriker und Filmemacher. Er lernt eine Welt kennen, die nicht zuletzt von der Kolonialgeschichte seines Landes geprägt war. Zurück in Portugal überdenkt Costa sein filmisches Schaffen grundlegend. Nicht nur wird er sich fortan mit wenigen Ausnahmen der kapverdischen Diaspora in Portugal widmen, sondern auch die Produktionsbedingungen seiner Filme ändern. Es geht nicht nur darum, ein Haus zu errichten, es geht darum, wie man es errichtet. Seinen dritten Film Ossos (1997) realisiert Costa noch unter den herkömmlichen Bedingungen des portugiesischen Kinos. Er schreibt ein Drehbuch, verantwortet ein grosses Team und erzählt zum ersten Mal mit Laiendarsteller:innen vom schwierigen Leben der Migrant:innen und Ausgestossenen im Armenviertel und von einer Frau, die von ihrer Rolle als Mutter überfordert wird. Eine bemerkenswerte Arbeit im Halbdunkel des armen Lissabons. Nach dem Dreh stellt Costa, wie er selbst sagt, eine Weiche um. Er befreit sich aus den Zwängen des industriellen Kinos, weil er erkennt, dass die filmische Beziehung zur Wirklichkeit vom herrschenden Geld und dem technischen Apparat behindert wird.

Neuerfindung des filmischen Porträts

Heute lassen sich die Häuser von Pedro Costa nicht betreten, ohne drei Menschen an der Tür zu begegnen: Vanda, Ventura und Vitalina. Sie einen ihre kapverdische Herkunft, ihr schwieriges Leben in Lissabon und ihre Nähe zu Costas Kamera. Was bedeutet das? Costa, der beginnend mit No Quarto da Vanda (2000) nur noch mit sehr kleinen Teams in langen, mit dem Leben verschränkten Drehphasen filmt, macht ein Menschenkino. Ausgerüstet mit einer Panasonic DVX 100, einem digitalen Camcorder, verbringt er Monate mit seiner titelgebenden und drogenabhängigen Hauptfigur in engsten Räumen. Er schafft eine Intimität, die das filmische Porträt neu erfindet. Nicht mehr der Blick auf eine fremde Welt ist entscheidend, sondern die Begegnung und Zusammenarbeit mit Menschen. Mehr noch, diese Filme sind auch für die Menschen und mit den Menschen, die er filmt. Er verleiht den Ungehörten eine Stimme. In Vitalina Varela (2019) begegnet man einer der vielen Frauen, die in ihrer kapverdischen Heimat zurückblieben, während die Männer in Portugal arbeiteten. Als sie endlich nachkommt, ist es zu spät. Ihr Mann ist verstorben, sie bleibt trotzdem in Portugal. Vitalinas Präsenz erinnert an die ikonische Kraft des vergangenen Kinos. Vanda, Ventura und Vitalina, allesamt Laiendarsteller:innen, die Costa im Rahmen seiner Aufenthalte in den Lissabonner Vierteln Fontainhas (inzwischen abgerissen und von der Landkarte verschwunden), 6 de Maio oder Cova da Moura kennenlernt und filmt, spielen ihr eigenes Leben (manchmal ein bisschen mehr als das) und tauchen wiederholt in unterschiedlichen Rollen in den Filmen auf. Sie flüstern, husten, zittern, weinen. Ihre Körper erzählen das, was professionelle Schauspieler:innen nie zeigen könnten.

Liebesbriefe

Das seinen Filmen Gemeinsame ist der Kampf ums Überleben. Damit sind nicht, wie sonst oft im Kino, sinkende Schiffe oder Schiessereien gemeint. Vielmehr zeigt Costa in klaustrophobischen Räumen und engen Gassen, was es braucht und was es kostet, weiterzuatmen. «Überleben, das heisst einen Liebesbrief zu wiederholen», wie João Bernard da Costa, der ehemalige Leiter der Cinemateca Portuguesa und eine wichtige Bezugsperson für Costa, einmal zu einer unvergesslichen Szene in Juventude em Marcha (2006), einer beinahe mythologischen, dennoch bedingungslos konkreten Auseinandersetzung mit Venturas Migrationsgeschichte, formulierte. Darin wiederholt der Protagonist gleich einem Mantra einen Liebesbrief an jemand Zurückgelassenen, an eine der vielen Nicht-Anwesenden, die die Filme Costas heimsuchen. Der Brief wird in ein scheinbares Nichts gesprochen, gegen die lichtschluckenden Mauern der vom Zerfall bedrohten Häuser, und doch erschallt er ganz klar als Ausdruck einer menschlichen Sehnsucht, die danach verlangt, gehört und berührt zu werden. Die Kamera ist präsent, wenn das ausgedrückt wird, was man in gewöhnlichen Worten nicht sagen kann: Gesten, Blicke, Gedichte und Musik. Es passt, dass Costa sich jüngst mit As Filhas do Fogo (2023), einer Art Vorstudie zu einem kommenden Langfilm, dem Musical zuwandte.

Zeit als Luxus

Seine Filme besitzen eine Temperatur, die aus dem Licht, den Farben, den Tönen entsteht. Das ist nicht Effekten oder Filtern zu verdanken, sondern einer Genauigkeit in der Betrachtung der Welt. Costa begreift seinen Vorbildern Danièle Huillet und Jean-Marie Straub folgend Zeit als Luxus, den es gegen die gehastete Welt zu behaupten gilt. Er hastet nicht, mit seinen Filmen lernt man, dass genaues Hinsehen mit Zärtlichkeit einhergeht. Mit dem Filmemacherpaar drehte er Où gît votre sourire enfoui? – neben Ne change rien (2005) mit Schauspielerin und Sängerin Jeanne Balibar – einen seiner zwei Filme über künstlerische Arbeit. Darin begibt sich Costa mit Huillet und Straub während deren Arbeit an Sicilia! (1999) in das Schnittzimmer. Es entsteht eine grosse Würdigung ihrer Arbeit und zugleich eine Art romantische Komödie, die viel mit den Abschweifungen Straubs zu tun hat. Das Finale in Sicilia!, als zwei Männer all das aufzählen, was Menschen verbindet, kann man auch auf Costas Kino ummünzen. Sie sprechen vom Licht, der Freude, dem Leid, von Erinnerung und Aufrichtigkeit. Die Überlebenden träumen nicht vom Umsturz, sie klammern sich an das, was die Wirklichkeit noch übriglässt: eine Tasse Kaffee, die Schönheit vergilbter Wände oder die Liebe zwischen denen, die noch da sind. Das Kino bei Costa ist ein Blick, der mehr sagt als tausend Diskurse. Darüber hinaus gibt es Dämonen aus der Vergangenheit, schlechte Angewohnheiten und manchmal einen Albtraum wie jenen, den Costa mit dem zitternden, speichelnassen Ventura in Cavalo dinheiro (2014) mit einem Soldaten in einem Aufzug durchlebt. Der Film dreht sich um die Ereignisse der Nelkenrevolution 1974, die kapverdische Migrant:innen als grosse Zeit der Unsicherheit erlebten. Er drehe Filme nicht, um sich zu erinnern, sagt Costa, sondern um endlich vergessen zu können. Nie zeigt er einfach nur ein Elend, er filmt die Würde und folglich die menschlichen Fähigkeiten jener, die im Elend leben. Das ist ein wichtiger Unterschied. Denn das Ästhetische seiner Filme, seine Hinwendung an Schatten und starke Kontraste, dient keiner Verklärung, es schützt vielmehr einen Zugang zur Welt, der den Protagonist:innen genau wie dem Blick des Kinos gehört. Costa baut das Haus nicht für sich, sondern für die, die in seinen Filmen leben.
Patrick Holzapfel

Patrick Holzapfel arbeitet literarisch, kuratorisch und journalistisch. Er ist Herausgeber des Online- und Printmagazins «Jugend ohne Film». 2024 erschien sein Debütroman «Hermelin auf Bänken».