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Heimliche Stars: Eine Ode an die Nebenfiguren

«Ein Film, in dem Harry Dean Stanton mitspielt, kann nicht schlecht sein!» Der legendäre Filmkritiker Roger Ebert bezog sich mit diesem Bonmot nicht auf Stantons Hauptrollen wie etwa in Paris, Texas, sondern auf seine unzähligen Kurzauftritte. Auf Nebenrollen, die prägend für einen ganzen Film sein konnten. Das Filmpodium richtet den Scheinwerfer für einmal auf eine Figurenkategorie, ohne die so mancher Film blutleer wäre und so manche Hauptfigur sich nicht in Szene setzen könnte. Was wäre beispielsweise Bruce Lee in Enter the Dragon ohne seinen unterlegenen Gegenspieler, den Bodybuilder Bolo Yeung, der Lees Kampfkunst erst so richtig zur Attraktion macht? Yeung und viele andere sind die überraschenden Stars der 17 ganz unterschiedlichen Filme, die wir in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Filmwissenschaft präsentieren. Abgerundet wird die Reihe mit einem Gespräch zwischen Casting Director Ulrike Müller und der Schauspielerin Maren Eggert sowie mit einer Buchvernissage. Spot on! In beinahe zweitausend Filmen hat Jill Goldston im Hintergrund mitgespielt, als Kellnerin, Krankenschwester, Mitfahrerin in der U-Bahn oder Tänzerin im Ballsaal. Im Kurzfilm Jill, Uncredited (2023) sind 78 ihrer Auftritte zu einem eigenen Werk kompiliert, in dem sich Jill – nun als Hauptfigur – wie in einem Suchbild überall verbirgt. Ein Suchbild, das den Blick für einmal auf die Nebenfigur lenkt. Filme sind voll von ihnen. Es sind vertraute Gesichter, aber nur wenige kennt man beim Namen.

Am Rande

Hattie McDaniel in Victor Flemings Gone With the Wind hingegen ist eine bekannte und vor allem auch laute Nebenfigur in einem lauten Film. Zwischen den Wortgefechten, den Auseinandersetzungen, den Geräuschkulissen der gesellschaftlichen und der kriegerischen Aushandlungen besetzt ihre Figur Mammy eine kleine Kampf- und Keifzone für sich. Damit entspricht sie den Traditionen des «comic relief», einer klassischen Zuständigkeit der Dienstboten, die in einer tragischen Handlung für kurze Momente der Komik zu sorgen haben. Und sprengt zugleich von Szene zu Szene den Rahmen, in dem für sie nicht viel mehr vorgesehen ist als eine dienende und allemal marginale Position. Die Academy of Motion Pictures hat ihr dafür 1940 einen Oscar verliehen, den ersten überhaupt für eine schwarze Darstellerin. Den für die weibliche Hauptrolle erhielt Vivien Leigh, so wie in jenem Jahr die meisten Auszeichnungen an Gone With the Wind gingen (u. a. Film, Kamera, Regie, Drehbuch). An einen separaten Tisch wurde McDaniel bei der Preisverleihung mit ihrem Partner trotzdem gesetzt; und sie selbst, das dokumentieren die Aufzeichnungen des Abends, absolviert den Auftritt am Mikrofon mit einer Befangenheit, die in den meisten ihrer Filmrollen völlig abwesend ist. Vor Gone With the Wind trat sie in etwa fünfzig Filmen auf, oft ohne im Abspann genannt zu werden, und auch nach dem Oscar blieben einige ihrer Auftritte «uncredited». Sie nahm es pragmatisch und mit Humor: Ein Dienstmädchen darzustellen, sei so viel lukrativer, als eines zu sein. Und spielte weiter, unerschrocken und energetisch, in einem rassistischen Umfeld, das ihr mehr als eine Rolle schuldig blieb.

Kleine Rollen, grosse Auftritte

Der namenlose Anhalter wiederum, den Harry Dean Stanton in Two-Lane Blacktop verkörpert, ist eigentlich nur eine von vielen Nebenfiguren, die bei einer Wettfahrt quer durch die USA auf der Route 66 mitgenommen werden. Im Laufe des Films lernen wir ganz unterschiedliche Menschen kennen, die andere Lebensentwürfe ins Spiel bringen und Schicksale, die nur angedeutet werden. Beiläufig ergibt sich dadurch auch ein vielschichtiges Bild der US-amerikanischen Gesellschaft. Die nur knapp drei Filmminuten, die Harry Dean Stantons «Oklahoma Hitchhiker» im Pontiac GTO sitzt, hinterlassen jedoch einen unvergesslichen Eindruck. Als er seine Hand auf das Knie des Fahrers legt und dieser ihn dafür im strömenden Regen aus dem Auto werfen will, weigert er sich beinahe kindlich: «I ain’t movin’!» Während die anderen Mitreisenden freiwillig aussteigen, sehen wir nicht einmal, wie der «Oklahoma Hitchhiker» das Auto verlässt. Nach einem Schnittwechsel ist er einfach aus der Erzählung verschwunden. Aber sein Aufbegehren bleibt noch lange im Gedächtnis, und man fragt sich, wie seine Geschichte weitergeht, für die es beim Rennen auf dem zweispurigen Asphalt keine Zeit gibt. «This is competition, man. I got no time for sidetracks.»

Stanton hat in seiner langen Karriere als Schauspieler fast ausschliesslich Nebenrollen gespielt und dabei immer wieder eigenbrötlerischen, gewitzten und manchmal auch melancholischen Charakteren Gestalt gegeben: als singender Gefangener in Cool Hand Luke, als kurzlebiges Mitglied der Bordmannschaft in Alien oder als alleinerziehender Vater einer Teenagerin in Pretty in Pink. Für seine einprägsamen Auftritte wurde er nicht nur vom Publikum verehrt, sondern auch von seinen Schauspielkolleg:innen. Jack Nicholson etwa verewigte seine Bewunderung in den achtziger Jahren, indem er in vielen Filmen, in denen er spielte, Stantons Initialen «H. D. S.» hinterliess: als Graffiti an einer Gefängniswand oder in einem Western in einen Baum geritzt. Neben denen, die sich mit kurzen Auftritten arrangieren oder sogar froh sind, nicht im Rampenlicht zu stehen, gibt es auch solche, die nach mehr streben. Spielen wollen – nicht die Dienerfigur, die nette Nachbarin oder den nächsten Anhalter, sondern eine Rolle mit Gewicht – ist eine Sehnsucht, die nicht nur den Nebendarsteller:innen zugeschrieben wird, sondern häufig auch den Nebenfiguren, die sie im Kino verkörpern. Für die fiktiven Nebendarsteller Bronski und Grünberg, nach denen heute sogar ein Wiener Theater benannt ist, erfüllt sie sich in Ernst Lubitschs To Be or Not to Be unter ungewöhnlichen Umständen, und auch die Karriere ihrer beiden Darsteller ist exemplarisch und exzeptionell zugleich: Felix Bressart (Grünberg) hatte bereits um die vierzig Nebenfiguren gespielt, bevor er 1938 vor dem Nationalsozialismus in die USA flüchtete. In Hollywood erhielt er weitere vierzig Rollen (darunter auch zwei Hauptrollen); aber wie Tom Dugan (Bronski), dessen Filmografie 260 Titel umfasst, ist er vor allem für das abgründige und zugleich hochkomische Finale bei Lubitsch bekannt, das ein Theaterfoyer zum Ort des ganz grossen Auftritts macht und die «zwei kleinen Chargen» zu Figuren, die eine Theaterkompagnie und damit vielleicht auch die Welt retten.

Stealing Scenes

Die dunkle Seite des Traums von Weltbedeutung erforscht Timothy Carey in The World’s Greatest Sinner. Nachdem man ihn immer nur in Nebenrollen engagiert hatte, drehte er schliesslich selbst einen Film, in dem er als Autor, Regisseur, Produzent und Verleiher nicht nur sämtliche zentralen Positionen ausfüllte, sondern auch die Hauptrolle übernahm: die eines gewöhnlichen Menschen, der Gott sein will. Zuvor hatte sich Carey als notorischer «scene stealer» einen Namen gemacht: ein Method-Actor, der in den Rollen manischer und pathologischer Figuren reüssierte und dabei, auch wenn er nur am Rande auftrat, immer ins Zentrum der Szene strebte. Er spielte in billigen Grindhouse-Filmen und in Meisterwerken der Filmgeschichte, in Nebenrollen, in denen er Bier ins Gesicht von Marlon Brando spritzte (The Wild One), James Dean verprügelte (East of Eden) oder vom Set gefeuert wurde, weil er die Sicht auf Kirk Douglas blockierte (Ace in the Hole).

Als Clarence «God» Hilliard tauscht er sein Leben als Versicherungsvertreter und Familienvater ein gegen das eines Rockstars, der die langen, schlaksigen Beine in Glitzerhosen auf der Bühne zappeln lässt; eines Verführers, dem alte, reiche Damen und jugendliche Groupies erliegen; eines Laienpredigers und Präsidentschaftskandidaten, der von Macht besessen ist. Mit verdrehten Augen, schweren Lidern und angeklebtem spitzem Kinnbart forciert Carey ein Spiel, das derart überdreht ist, dass man kaum zu sagen vermag, ob es sich um eine bizarre Posse oder ein kompromissloses künstlerisches Experiment handelt. Ebenfalls abgründig: der Blick aus den unteren Rängen, der sich in Nicolas Wackerbarths Casting auf diejenigen richtet, die über Besetzung, Rollenverteilung und damit über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit entscheiden. Andreas Lust performt einen Aushilfsschauspieler, der für die Schauspieler:innen auf einem Filmset den Anspielpartner gibt. Ein trauriger Clown, der mehr sieht und weiss als die meisten anderen und der sich doch nicht aus der ihm zugewiesenen Position zu befreien vermag. Und so verfolgt er in Casting das Defilee der Diven, die eine nach der anderen zum Casting erscheinen: vier grosse Damen aus dem deutschsprachigen Film und Fernsehen, u. a. Andrea Sawatzki und Ursina Lardi, in ungewohnt kurzen Episoden. Der Film verwandelt diesen Casting-Reigen in eine Serie von Porträts der Schauspielerin in mittleren Jahren, immer aus dem Blickwinkel der «Anspielwurst», und die Diven ziehen, wie so viele andere Nebenfiguren vor und nach ihnen auch, alle Register, um sicherzustellen, dass ihre Auftritte, erfolgreich oder nicht, noch lange in Erinnerung bleiben werden.
Stefanie Diekmann und Fabienne Liptay

Stefanie Diekmann ist Professorin für Film- und Medienwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim. Sie forscht unter anderem zu Nebenfiguren und ist Mitherausgeberin des Bandes «Nebenfiguren», der im Herbst 2024 erscheint.

Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Sie forscht unter anderem zu Statist:innen im Film und hat als Autorin zum Band «Nebenfiguren» mit einem Essay über die Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit filmischer Figuren beigetragen.