Robert Altman: An Träumen zugrunde gehen
Wohl wenige Regisseure der grossen Filmschmiede Kalifornien waren so eigenwillig und konsequent wie Robert Altman: Selbst innerhalb des New Hollywood war er ein Aussenseiter. Wie seine Weggefährten der 1970er-Jahre dekonstruiert und hinterfragt auch er Genres und Weltbilder der klassischen Studiozeit, und vor allem rüttelt er heftig an den Grundpfeilern des US-Selbstverständnisses. Doch anders als Coppola oder gar Spielberg war er nie sonderlich daran interessiert, das Genrekino mit neuartigen Impulsen kommerziell wieder wachzuküssen. Ihm ging es eher um einen scharfsinnigen Blick auf die Heucheleien seines Landes und um einen ebenso kompromisslosen Entwurf einer unverwechselbaren, ausgefallenen Filmsprache, die sowohl auf narrativer als auch auf visueller und akustischer Ebene Zentrales mit Peripherem vermischt. Kein Wunder, hat der Meister bis heute viele Bewunderer:innen, doch nur wenige Nachahmer:innen: Nur Altman beherrscht den Altman-Stil wirklich. Unsere Retrospektive ist ein etwas verfrühtes Geburtstagsgeschenk an den grossen Meister, der am kommenden 20. Februar 100 Jahre alt geworden wäre.
Rot, Weiss und Blau sind die Signalfarben in den Filmen von Robert Altman. Aber wenn die amerikanische Flagge weht, stellt sich kein patriotisches Hochgefühl ein; sie ist ein Ausdruck von Skepsis. In Nashville (1975) hängt nach fast drei Stunden Filmdauer eine überdimensionale Fahne über dem Parthenon der Country-Hochburg, wo ein obskurer Präsidentschaftskandidat auf einer Wahlkampfveranstaltung gerade einem Attentäter entkommen ist (stattdessen erwischt es die Sängerin auf der Bühne). Aus dem allgemeinen Chaos zoomt die Kamera langsam heraus, aber Ordnung ist schnell wiederhergestellt, «The Show Must Go On». Die nächste Country-Nummer, «It Don’t Worry Me», verkündet schon wieder routinierten Optimismus, und am Ende bilden die «Stars and Stripes» das Firmament über diesem Wimmelbild. Sarkastischer kann 1975 ein Porträt von Amerika zur 200-Jahr-Feier kaum enden.
Am Anfang von Altmans revisionistischem Western Buffalo Bill and the Indians (1976), der den pointierten Untertitel Sitting Bull’s History Lesson trägt, weht die Fahne erneut. Sie steht einem typischen Genremotiv vor: Noch während der Titelsequenz überfällt eine Gruppe Native Americans eine Ranch, sie tötet die Cowboys und entführt die Frau. Doch diese uramerikanische Szene, durch Hollywoods Rassismus endlos reproduziert, entpuppt sich bloss als Inszenierung einer Wildwest-Show, die den falschen Gründermythos fortschreibt. Die Lügen der Sieger.
Im Werk von Altman bilden die Schlusseinstellung von Nashville und die Eröffnungssequenz von Buffalo Bill and the Indians, die 1975 und 1976 unmittelbar nacheinander entstanden, ein Kontinuum. Das Amalgam aus Politik und Showbiz, Kapitalismus und Gewalt hat in Altmans Filmen der 1970er-Jahre den amerikanischen Mythos ersetzt. Zur Mitte der Dekade stand New Hollywood unter dem Eindruck von Watergate und dem Vietnam-Debakel, eine kollektive Verunsicherung hatte die Nation erfasst. Die 200-Jahr-Feier fiel ausgerechnet in die grösste Krise der Demokratie.
Amerikanischer Chauvinismu
Altmans Vertrauen in die politischen Institutionen war da bereits nachhaltig erschüttert. Gut 15 Jahre später beginnt auch seine Hollywood-Satire The Player (1992) mit einer Film-im-Film-Finte, noch so eine Kontinuität. Das Wildwest-Theater und die Traumfabrik stellen zwei Fixpunkte in Altmans Amerika-Bild dar. Showeffekte. Konkrete Politik wird in seinen Filmen meist nachrangig behandelt. (Ausnahme ist die brillante Mockumentary Tanner 88 über den Vorwahlkampf der Demokraten 1988.) Darum stirbt in Nashville auch nicht der Populist Hal Phillip Walker, dessen gagaistische Wahlversprechen durch den Film plärren – sondern Nashville-Darling
Barbara Jean. Der Politiker bleibt unsichtbar. Das Kino Altmans ist nicht links im Sinne einer abgesteckten Weltanschauung, sondern qua seiner kaleidoskopischen Perspektive auf Amerika. Doch selbst im liberalen New Hollywood, das die Filmindustrie in den späten 1960er-Jahren erneuerte und den amerikanischen Chauvinismus als Selbsttäuschung entlarvte, bugsierte er sich mit seiner kompromisslosen Haltung ins Abseits.
Im diegetischen Sounddesign seiner Filme – Schichten von Dialogfetzen, akustische Räume ohne Zentrum – steckt bereits der Ansatz einer Diagnose. Die Orientierungslosigkeit wird bei Altman zum Programm, das Zentralnarrativ gerät zunehmend von der Peripherie aus in Bedrängnis, die Kakofonie der neuen Zeitrechnung verstärkt die kollektiven Neurosen. Nicht von ungefähr beginnt auch Brewster McCloud, in dem Bud Cort einen einzelgängerischen Tüftler spielt, der sich in einem Bunker unter dem Astrodome von Houston ein Paar Flügel bastelt, mit einem schiefen Vortrag von «The Star-Spangled Banner» – mitten auf dem Rasen des leeren Footballstadions. Der rot-weiss-blaue Pomp wirkt bereits im Augenblick seiner Inszenierung lächerlich.
Amerikanische Befindlichkeiten
1970 markiert das Jahr, in dem sich Altman vom Nimbus des «Auftragsfilmers» (mit Fernsehserien wie Alfred Hitchcock Presents und Bonanza, im Studiosystem mit Countdown: Start zum Mond) befreite; künstlerische Autonomie verschaffte ihm seine neu gegründete Produktionsfirma Lion’s Gate. Mit der Militärklamotte M*A*S*H und dem schwer kategorisierbaren Brewster McCloud begann ein sagenhafter Lauf von Klassikern wie McCabe & Mrs. Miller (1971), der kongenialen Marlowe-Interpretation The Long Goodbye (1973), dem Spielerdrama California Split (1974), Three Women (1977) – ein flirrender Fiebertraum mit einer verstörend flatterhaften Shelley Duvall in der kalifornischen Wüste – und natürlich der hypertrophen Satire Nashville, dem definitiven New-Hollywood-Film. In einer Dekade, in der fundamentale Gewissheiten im amerikanischen Selbstverständnis erodierten, nahm Altman die Rolle des Seismografen nationaler Befindlichkeiten ein. M*A*S*H war nach dem John-Wayne-Vehikel The Green Berets erst die zweite Studioproduktion über den Vietnamkrieg (obwohl er 20 Jahre früher in Korea spielt), und Altman gab sein Land der Lächerlichkeit preis. Er erspart dem Publikum nicht die blutigen Konsequenzen des Krieges, auch wenn im Film kein Schuss fällt: Seine Protagonisten Hawkeye (Donald Sutherland)
und Trapper (Elliott Gould) müssen im Feldlazarett die verletzten Soldaten wieder zusammenflicken.
Anders als in Catch-22 von Mike Nichols, der im selben Jahr in die Kinos kam, ist in M*A*S*H der Wahnsinn nicht dem Wesen des Krieges immanent. Vielmehr ist der Krieg bei Altman, der selbst als Bomberpilot in Südostasien stationiert war, ein integraler Aspekt der amerikanischen Identität. Ihre schlechtesten Eigenschaften – religiöser Fanatismus, das Männerbündische, Autoritätshörigkeit – kommen erst auf dem Schlachtfeld richtig zur Geltung. Mit ihren anarchischen Pranks gegen den Kriegsapparat strapazieren Hawkeye und Trapper die fragilen Sollbruchlinien dieses Konstrukts.
Sittenbilder
Es ist kein Zufall, dass Altmans grosse Zeit zusammenfällt mit der Hochphase von New Hollywood, dem Kino der Paranoia und der Verunsicherung. Robert Altman war der amerikanische Regisseur par excellence, weil er zwischen der Gewalt, der Tragik, der Farce und der naiven Hoffnung dieses gewaltigen Projekts keinen Unterschied erkennen wollte. Seine Figuren, allesamt verlorene Gestalten, sind dazu verdammt, an ihren Träumen zugrunde zu gehen; oder sie machen sich dabei lächerlich (jedoch nie beides gleichzeitig). Selbst Richard Nixon, so was wie der böse Geist von New Hollywood, darf in seinen zunehmend derangierten Tiraden im Kammerspiel Secret Honor von 1984, als die Filmbranche Altman vorübergehend verstossen hatte, noch einmal seine Sicht der Dinge darlegen, inklusive Mutterkomplex und Verschwörungstheorien. Amerika hat am Ende auch «Tricky Dicky» kleingekriegt. Ein Archetyp im Altman-Panoptikum ist der von Warren Beatty gespielte Entrepreneur und Pokerspieler McCabe im Spätwestern McCabe & Mrs. Miller. Um Arbeiter in das Minenstädtchen Presbyterian Church zu locken, lässt er sich auf einen Deal mit einer streitbaren Madame (Julie Christie) ein, die das örtliche Bordell in eine respektable Goldgrube verwandelt. Prostitution und Kapital erweisen sich als konstitutiv für den Pioniergeist, doch die Macht der Konzerne reicht bis in die entlegensten Regionen der «frontier». McCabes amerikanischer Traum, melancholisch untermalt mit Leonard Cohens bittersüssen Balladen, stirbt mit ihm im Schnee.
Im Episodenfilm fand Altman das perfekte Dispositiv für seine mäandernden Sittenbilder, konsequenterweise griff er für sein Hollywood-Comeback Anfang der 1990er-Jahre auf die bewährte Formel zurück. In seinem letzten Meisterwerk, Short Cuts, basierend auf Kurzgeschichten des Lakonikers Raymond Carver, öffnet sich die lose Struktur des Ensemblefilms in ein weites Feld atmosphärischer Störungen – angesiedelt im suburbanen Los Angeles (an der Peripherie der Traumfabrik), fragmentiert in neun dysfunktionale Beziehungen. Die von einer Insektenplage befallene Stadt ist das Leitmotiv von Short Cuts, in der Eröffnungsszene versprühen Helikopter (ein Vietnam-Innuendo) Chemikalien gegen die mediterrane Fruchtfliege. Das soziale Gewebe steht unter Spannung, eine Kettensäge zerlegt das Inventar kleinbürgerlicher Träume, die Familie – als Monade kapitalistischer Ideologie – hat ihre Bindekräfte verloren.
Vielleicht lässt sich diese wechselhafte Karriere am besten so zusammenfassen: Robert Altman konnte von der Filmindustrie erst wieder akzeptiert werden, als die Krise nach zwölf Jahren Ronald Reagan und George Bush zum Normalzustand geworden war.
Andreas Busche
Andreas Busche ist Filmredaktor beim Berliner «Tagesspiegel».