Shinji Somai: Zeitlosigkeit der Adoleszenz
Die Filme von Shinji Somai gehören zu den schönsten japanischen Produktionen der 1980er- und 1990er-Jahre und waren überaus prägend für nachfolgende Filmemacher wie Kiyoshi Kurosawa, Hirokazu Kore-eda und Ryusuke Hamaguchi. Entstanden nach dem Ende des Studiosystems in einer Zeit des Umbruchs, bedienten Somais Filme unterschiedlichste Genres: versponnene Fantasie, wilder Yakuza-Teenie-Film oder melancholischer «Roman Porno». Im Herzen seines OEuvres stehen jedoch Werke über Jugendliche, deren Einsamkeit und Entfremdung er mit grossem Mitgefühl zeigt. Die Zeitlosigkeit des Erwachsenwerdens geht bei ihm stets Hand in Hand mit der Unvermeidlichkeit ihres Endes. Die Shinji Somai gewidmete Hommage bietet nun die seltene Möglichkeit, sein aussergewöhnliches Filmschaffen zum ersten Mal in der Schweiz zu entdecken.
Shinji Somai gilt in Japan als das Symbol des Kinos der 1980er-Jahre, genau genommen als einflussreichster Filmemacher der Dekade, den alle angehenden Regisseure als Vorbild nahmen und imitierten, ohne jedoch je sein formales Genie zu erreichen. Niemand konnte mit langen Einstellungen so variantenreich umgehen wie Somai. Man muss einfach nur schauen, wie er dieses Stilmittel mal veristisch auflädt, ganz zugespitzt in The Catch (1983), einem Drama um einen jungen Mann, der das Thunfischfangen erlernt, ein anderes Mal dann – in seinem berühmtesten Werk Typhoon Club (1985) – für Abstraktionen verwendet, wie etwa in den oft tableauartigen Szenenarrangements der Spiele und Rituale einiger Schüler, die wegen eines Unwetters mehrere Tage unbeaufsichtigt in ihrer Schule verbringen müssen. Ebenso bemerkenswert ist allerdings, wie er Realismus und Fantasie immer wieder ineinander verwebt, wie er der Wirklichkeit surreale Momente abgewinnt, etwa in dem morbid beginnenden, dann immer lichteren Kinderfilm The Friends (1994), aber auch, wie er dem Geisterfilm Tokyo Heaven (1990) mit Realismuseinsprengseln unerwartete Zwischentöne verleiht. Somais Kunst ist die des inneren Widerspruchs – der Verweigerung einer Eindeutigkeit, Kultivierung des Sowohl-als-auch. Dazu passt perfekt, dass die meisten seiner Filme von Jugendlichen erzählen, also von Menschen in einem Übergangsstadium zwischen den körperlichen wie geistigen Freiräumen der Kindheit und den brutal klaren Strukturen des Normerwachsenendaseins. Damit spiegeln Somais Filme, egal wie (un)bewusst, den Zustand des damaligen japanischen Kinos wider: In den 80er-Jahren war das Studiosystem endgültig zusammengebrochen, die unabhängige Finanzierungskultur musste sich strukturellökonomisch erst einmal finden.
Zwischen zwei Ären
Als Somai 1972 beim Studio Nikkatsu eine Beschäftigung als Regieassistent fand und damit seine ersten Schritte im Filmgewerbe tat, waren die Verhältnisse noch anders: Die Studios waren die Spielfilmkultur – von der Ausbildung aller Gewerke über die kreative Durchführung eines jährlichen Produktionsplans bis zur Auswertung der so realisierten Filme wurde alles von bei den jeweiligen Firmen fest angestellten Profis gemacht. Somai gehört zur letzten Generation japanischer Filmschaffender, die ihr Handwerk auf diese altetablierte Art und Weise lernten: am Set, bei der Arbeit selbst, unter der Anleitung erfahrener älterer Kollegen. Allerdings hatte sich der Markt so stark verändert, dass sich Nikkatsu seit 1971 auf die Produktion von Erotika konzentrierte – die «Roman Porno»-Filme. In diesem Umfeld lernte Somai auch seinen Mentor kennen, Kazuhiko Hasegawa, wie er ein Assistent, aber schon älter und erfahrener. Nach vier Jahren des Angestelltendaseins machte sich Somai selbstständig, war 1974 und 1979 als Regieassistent an den beiden einzigen Filmen Hasegawas beteiligt sowie an zwei kleineren Arbeiten der Avantgardelegende Shuji Terayama. Mit der herrlichen Manga-Adaption Tonda Couple (1980) gab Somai schliesslich zum Dekadenstart sein von der Kritik weitreichend gefeiertes Regiedebüt; der dann auch beim Publikum erfolgreiche Zweitling Sailor Suit and Machine Gun (1981), eine exzentrische Mixtur aus Gangster- und Teenie-Komödie, zementierte seine Position als kommender Starauteur.
Somai war ab 1982 in das wohl berühmteste, wenn auch nicht sonderlich langlebige Produktionsexperiment des Jahrzehnts prominent involviert: die Director’s Company, kurz: Direkan, bei der fast alle herausragenden Jungfilmer der Ära mitmachten. Neben Typhoon Club produzierte Direkan auch Somais im selben Jahr gestartetes Erotik-Exerzitium Love Hotel (1985), eine Hommage an das Kino seiner Nikkatsu-Lehrjahre, dessen psychologisch ambivalent-abgründigeren Seiten. Die Finanz- und Verwaltungsverhältnisse dieses Werks waren nur zu typisch für die japanischen Kino-80er: Direkan fungierte hier als Subunternehmer der Nikkatsu, die sich mittlerweile über diese Art von Konstrukt allerhand Fixkosten ersparte. Mit dem Ende der Bubble Economy, die in Japan zwischen 1985 und 1990 zu einer irrsinnigen Teuerung führte, kollabierte auch Direkan.
Nach dem Aufbruch
Für Somai hatte das keine unmittelbaren Folgen: Er arbeitete zwar bis zum Schluss für die Firma, konnte aber nach deren Ende anderweitig immer wieder Geld für seine Projekte finden – allen Exzentrizitäten zum Trotz (Somai war z. B. ein passionierter Spieler, der zum Zocken auch mal unangekündigt das Set verliess und so den Dreh abrupt zum Stillstand brachte ...). Interessant ist allerdings, dass sich mit der Dekadenwende und dem Direkan-Zusammenbruch etwas veränderte im Schaffen von Somai: Seine Filme drehten sich nun nicht mehr um Jugendliche, sondern primär um Kinder oder Erwachsene, und auch die Arbeit mit Plansequenzen trat zunehmend in den Hintergrund – seine Werke wirkten nun gebauter, fester, so als sei er endlich im Leben angekommen. Viel Zeit war ihm allerdings nicht mehr gegeben: Geboren 1948, verstarb er 2001, wurde also gerade mal 53 Jahre alt. Angesichts dessen, dass unerwartete Lebenswendungen im Zentrum so vieler seiner Werke stehen, hat das etwas melancholisch Vorbestimmtes – ein Gedanke, der zu dem Kult um Somai als eigentlich schon im Leben Unvollendeten passt.
Somai blieb in Japan bis zu seinem Tod ungebrochen beliebt beim Publikum wie bei der Kritik; Desinteresse an seinem Schaffen gab es nie. Ausserhalb des Landes jedoch wurde Somai genauso marginal zur Kenntnis genommen wie alle anderen jüngeren japanischen Regisseure. Erst zur Mitte der 1990er fanden Somais Werke regelmässig Platz in Cannes und Berlin, allerdings nur in Nebensektionen; später gelang das auch seinem Direkan-Kollegen Kiyoshi Kurosawa, der es in den 2000ern dann sogar wiederholt in die Wettbewerbe von Cannes und Venedig schaffte – als einziger Filmschaffender dieser Generation. Es ist entsprechend nicht erstaunlich, dass man in Japan die 80er als verlorene Dekade betrachtet. Aber gut, es ist ja immer noch Zeit, das Ungesehene zu entdecken, es lieben zu lernen. Das ist ja das Schöne am Kino.
Olaf Möller
Olaf Möller (Köln/Helsinki). Schreibt über und zeigt Filme.