Stummfilmfestival 2025: Entfesselte Elemente
Schwindelnde Höhen, eisige Weiten, tosende Stürme und brechende Wellen – das Stummfilmfestival ist zurück und bringt die Kraft und Faszination entfesselter Elemente ins Filmpodium. Von der Antarktis über georgische Sumpflandschaften bis hin zum portugiesischen Fischerdorf Nazaré – Filmpionier:innen vermitteln uns in Dokumentar- und Spielfilmen ihr Bild von einer Welt, die es so heute oft gar nicht mehr gibt und die das Publikum damals noch nie gesehen hatte. Neben dem Fokusprogramm präsentieren wir in einem bunten Kaleidoskop herausragende Restaurierungen mit Klassikern von Robert Wiene, Alfred Hitchcock oder Ernst Lubitsch, aber auch weniger bekannte Werke, für die wir brennen. Vieles davon in überraschenden Farben, viragiert, getont oder sogar in Technicolor. 47 international renommierte Musiker:innen begleiten die Filme von Klassik über Jazz, Rock, Pop bis hin zu Elektronik und Avantgarde. Zudem sorgen über 40 (!) Kinder und Jugendliche von Musikschule Konservatorium Zürich (MKZ) für die musikalische Untermalung des traditionellen Familienprogramms. Zu Gast sind wir zudem für je einen Abend im Schauspielhaus, im Moods und im Kunstraum Walcheturm. Das Festival bestreiten wir nach dem grossen Erfolg der letztjährigen Ausgabe erneut als Koproduktion mit dem IOIC (Institute of Incoherent Cinematography) und mit der Unterstützung unseres Beratungsteams (Martin Girod, Kristina Köhler, Daniel Wiegand).
Die Welt, die Sie noch nie gesehen haben; und die Welt, wie Sie sie noch nie gesehen haben! Diese beiden Versprechen lösen Film und Kino seit ihren Anfängen vielfältig ein, und dies insbesondere in ihren Weltbildern der Natur. Vormals winzigste Gegebenheiten spielen sich in gewaltiger Grösse vor unseren Augen ab, und umgekehrt scheint nichts zu gross, um in ein Kino zu passen. Unter den Bedingungen des Films wird die Natur auf neue Weise sichtbar und bald mit dem Aufkommen des Films in ihrer Faszination visuell erspürt. Die Natur, die das Kino auf der Leinwand entfesselt, muss für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrem lebendigen Abbild noch als weitgehend unbekannt vorausgesetzt werden. Denn vor dem Kino liess sich die Welt in Bewegung nur in der unmittelbaren Anschauung wahrnehmen; erst die Kameraleute, die die Welt bereisten, brachten (noch stumme) «lebende Bilder» aus den bisher unbekannten und bis anhin auch uneroberten fernen Winkeln des Planeten vor das städtische Kinopublikum. Dabei lassen sich bereits im Zeitalter des Stummfilms und dort aufgrund des Verzichts auf eine hörbare Sprache vielleicht sogar stärker Tendenzen ausmachen, die um die Faszination der – und Einsicht in die – Natur kreisen, das Wunder der Schöpfung vor Augen führen.
Die Welt auf der Leinwand entdecken
Der trickreiche Kulturfilm gleichen Titels aus dem Jahr 1925 von Hanns Walter Kornblum sollte das gesamte damalige Wissen der Menschheit über die Erde und über das Weltall darstellen. Wunder der Schöpfung nimmt bereits die Blicke aus dem Weltraum auf die Erde vorweg, zeigt unseren Planeten vom Mond aus gesehen genauso wie kleine und auf die spektakuläre Grösse des Kinos gebrachte Beobachtungen irdischer Natur. Die Faszination der Natur entzündet sich an der «gerade entdeckten», «der so noch nie gesehenen», dem Abenteuer, nicht selten auch dem Drama und den Gefahren, die sich mit ihr verbinden; sowohl im Dokumentar- als auch im Spielfilm. Filme sind dabei nicht selten als Chronisten wagemutiger Reisen in die Natur in Erscheinung getreten: Die Expeditionen der 1920er- und 1930er-Jahre hinterliessen – selbst im Fall der jeweils fehlgeschlagenen Versuche, den Mount Everest erstzubesteigen oder den Südpol als Erster zu erreichen – im Kino bemerkenswerte Bilder von teils spektakulärer Schönheit. The Great White Silence (Herbert Ponting GB 1924) und The Epic of Everest (J. B. L. Noel, GB 1924) führen das Publikum an das untere klirrendkalte Ende der Welt und in die eisigen Höhen des Himalaja. Beide Filme sind zwar auch von einer kolonialen Eroberungsgeste gekennzeichnet, doch lässt sich mit dieser die bemerkenswerte Fülle an Eis- und Schneebildern nicht erklären, die einfach nur auf der Leinwand sind, weil sie ebenso schön wie erhaben, so malerisch wie lebendig sind. Dass hierbei auch das reine Naturphänomen Protagonist eines Films sein kann, zeigt der Kurzfilm Das Wolkenphänomen von Maloja (Arnold Fanck, D 1924), in dem sich der nebelige Dunst kaskadenhaft wie stürzendes Wasser durch das Tal walzt. In ihrer Schönheit ist die Natur dabei eigentümlich widersprüchlich und in sich zwiespältig: Einerseits kann sie rau, gefährlich, wütend-wild und gleichgültig erbarmungslos wirken, setzt den Menschen also Herausforderungen und Grenzen. Andererseits ist aber genau ihre Wildheit und Ungezähmtheit die Bedingung der Utopie des freien Lebens, Fluchtpunkt der individuellen Selbstentfaltung und der Befreiung von allen Fesseln der Kultur und/oder dem Gesetz. Konsequent mit Natur-Bildern eigenen Rechts, das heisst Bildern, in denen die Natur als solche vor ihre Funktion als Setting tritt, hat Victor Sjöström diese Widersprüchlichkeit in seinem Film Berg-Ejvind och hans hustru (1918) bis zum (in diesem Fall) bitteren Ende durchdekliniert. Sjöström, das soll hier nicht unerwähnt bleiben, kann weit über seine Zeit hinaus als herausragender Regisseur eines Natur-Kinos gelten, das in der Fotografie der natürlichen Umwelt eine bis dahin ungekannte Poesie freisetzte.
In The Wind (USA 1928) – einem Drama mit starken Westernelementen und Passagen eigentümlichen Spuks – stellt uns derselbe Regisseur jedoch noch eine andere Variante der Natur im Stummfilm vor: Hier ist der Wind nicht einfach Wetter, sondern geradezu magisch, nicht nur im Sinne der Filmerzählung und der sie begleitenden Bilder. Magisch ist der Wind in diesem Stummfilm vor allem auch deswegen, weil sich sein Pfeifen und Brausen beinah sehen lässt; die Natur, obgleich stumm gefilmt, in der Kinoerfahrung quasi mit Phantomgeräuschen tatsächlich empfunden wird. Dies gilt auch für das halb-ethnografische portugiesische Fischerdrama Maria do Mar (José Leitão de Barros, Portugal 1930), das die Brandung, das Glucksen und Sprudeln des Meeres vernehmbar macht, ohne dass es dieses hörbar gestalten könnte. Von einer vergleichbaren, aber beinah schon ins Mythologische gesteigerten Zauberei sind auch die Naturaufnehmen in den Filmen Ujmuri (UdSSR 1934) und Buba (1930) der ersten georgischen Filmemacherin Nuza Gogoberidse bestimmt. Hier werden die Naturbilder – tiefe, von reissenden Strömen durchzogene Täler im Kaukasus in Buba, eine beinah tropisch ebenso blühende wie schlammig schlickige Sumpf- und Marschlandschaft in Ujmuri – zu regelrechten Gefühlslandschaften, fangen Stimmungen ein, nehmen diese auf und sind zugleich immer über diese hinausweisend.
Die filmische Natur der Dinge
Die Natur im Film, die immer auch Natur als Film ist, findet sich also in unterschiedlichen Verflechtungen auf der Leinwand wieder: Sie koexistiert mit der Geschichte und Handlung, deren Kulisse sie bildet. Gleichzeitig befinden sich die Natur-Bilder, die wir im Kino wahrnehmen, in stetigem Austausch mit solchen, die wir als Vorstellungsbilder in das Kino hineintragen und die wir nach dem Kino in nun veränderter Vorstellung aus diesem wieder herausbringen. Dass das Kino Natur nicht einfach abbildet, nicht nur Kulissen-Natur zeigt, sondern Natur im Kino eine Autonomie widerfährt, die unser Bild von ihr verändert, scheint dabei offensichtlich. Denn es stimmt, dass das Kino uns eine Welt zeigt, die wir noch nie gesehen und die Welt so zeigt, wie wir sie noch nie gesehen haben. Die Bilder insbesondere des Stummfilms können hier einen eigenen Erfahrungsschatz bereithalten. Sie entstammen alle einer Zeit, die für ökologische Zusammenhänge noch weitgehend unsensibel war. «Naturschutz» wäre wohl in erster Linie als Schutz vor der Natur verstanden worden, wie es sich etwa auch in dem Western The Winning of Barbara Worth (Henry King, USA 1926) zeigt, in dem der Wüste qua Staudamm Fruchtbarkeit abgetrotzt werden soll. Umso erstaunlicher, faszinierender, wenn nicht überraschender mag die Beobachtung ausfallen, dass die Natur sogar dort, wo gegen sie vorgegangen wird, im Film eine ganz eigene und in diesem Fall eben visuelle Ausdruckskraft besitzt, die teilweise – wie gesagt – andere Sinne aktiviert, eine Stimmung (auch ohne Stimme) erzeugt, die sie tatsächlich entfesselt. Natur liegt im Film nicht einfach sichtbar vor wie in einem illustrierten und in Bewegung versetzten Reiseprospekt, in dem sie tatsächlich nur vorgeschobene Kulisse und Betrug am Publikum sein könnte; Natur als Film macht uns sie sehend, dies aber eben auf eine sehr eigene Weise, über ihre Wirklichkeit hinaus bedeutungsvoll.
Philipp Blum
Dr. Philipp Blum ist Oberassistent und Koordinator des Netzwerk | Réseau Cinema CH am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Zurzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zum Thema der Begriffsbildung der Natur durch den Film.