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Pedro Almodóvar: Schmerz und Herrlichkeit

The Room Next Door, Pedro Almodóvars Freitoddrama, öffnet neue, stillere Räume im Werk des spanischen Regisseurs und wurde im Sommer 2024 an den Filmfestspielen in Venedig verdient mit dem Golden Löwen ausgezeichnet. Ein idealer Zeitpunkt, um zurückzublicken auf die Filme seines Lebens. Auf die furchtlosen Tabubrüche, den überschäumenden Freiheitsdrang und den Hedonismus der frühen Post-Franco-Movida-Filme. Auf seine übergrossen Frauenfiguren – oft am Rande des Nervenzusammenbruchs, aber immer im Zentrum seines Interesses! Auf ein Werk zwischen Kunst und Kitsch, Provokation und Poesie und überraschender Gesellschaftskritik. Wir widmen dem bedeutendsten und wohl auch kontroversesten Filmemacher Spaniens der letzten Jahrzehnte eine grosse Retrospektive und freuen uns auf den Besuch von Antxón Gómez: Der Künstler zeichnet seit nunmehr fast 30 Jahren für das expressive Production-Design verantwortlich, das Almodóvars Filme immer zu einem beachtlichen Teil miterzählt. Ignacio ist ein Engel mit einem Geschlechtsteil. Das ist die anstössige Pointe in Pedro Almodóvars Film La mala educación (2004). Das grosse Thema des sexuellen Missbrauchs an Kindern durch Vertreter der Kirche wird an einer schillernden Figur erfahrbar: Ignacio möchte als Ángel angesprochen werden, und er will unbedingt eine Frau namens Zahara spielen. Die gebrochenen Identitäten verweisen zurück auf eine Zeit, in der ein Priester und Literaturlehrer sich eines jungen Mannes bemächtigte: In einem Internat in den sechziger Jahren erfuhr Ignacio seine «mala educación». In den siebziger Jahren verschaffte er sich als Transvestit und Drogensüchtiger eine gefährliche Freiheit. Nun ist die Zeit für eine Abrechnung gekommen.

Die Vergangenheit ist in den Filmen von Pedro Almodóvar nicht nur nie vergangen, sie verschafft sich immer wieder eine körperliche Präsenz, indem sie das Leben von Menschen buchstäblich über den Haufen wirft. Die vielen Facetten der Sexualität und Identität (hetero, homo, trans, nicht binär) sind für ihn keine Alternativen. Sie sind Formen des Übergangs zwischen damals und heute, zwischen Kindheit und Gegenwart, manchmal sogar zwischen Leben und Tod. Und diese Übergänge verlaufen in den Filmen oftmals vom Trauma zur Therapie oder von der Lust zu deren Verhinderung. Manchmal sogar zwischen Leben und Tod. Almodóvar ging selbst in eine katholische Schule, und zwar tatsächlich in ungefähr jenen Jahren, von denen er in La mala educación erzählt. Aber es wäre verfehlt, seinen Film (nur) autobiografisch zu lesen. Denn der bedeutendste spanische Filmemacher der letzten vierzig Jahre ist selbst so einer wie Ignacio: ein Gestaltwandler, dem das Kino die Möglichkeiten gibt, immer wieder in neue Geschichten zu schlüpfen und sich in ihnen so zu verstecken, dass sich ein grosses Publikum darin wiedererkennen kann.

In Julieta (2016) erfährt eine Frau just in dem Moment, in dem sie von Madrid nach Portugal ziehen will, dass ihre lange verschollene Tochter in Italien lebt. Sie möchte sich noch einmal richtig verändern, wird aber dann in eine andere Richtung gezwungen. Es gibt eine Zeit im Leben, in der ist alles offen, und dann gibt es eine Zeit, in der ist manchmal nur noch eines offen: die grosse Wunde, die das Leben geschlagen hat. Und so ist der Film Julieta ein Spiel mit diesem zentralen Motiv des Melodrams und der Psychoanalyse: Die Spur führt immer zurück in den Schmerz. Der Schmerz (bei Almodóvar vorwiegend als Erfahrung von Frauen) aber birgt das höchste der Gefühle, die wahre, grosse Liebe, oder zumindest die unvergessliche Leidenschaft.

Kopfüber in die Freiheit
Pedro Almodóvar hat mit seinen Filmen selbst eine Bewegung vollzogen, die er in Julieta rekapituliert: Er begann als Regisseur just in dem Moment, in dem ein rückständiges, durch Autokratie aufgehaltenes Land kopfüber in die Freiheit sprang. 1975 starb der Despot Franco nach fast vierzig Jahren Herrschaft, 1977 gab es zum ersten Mal seit 1936 wieder freie Wahlen. Die Kultur war der «transición» voraus, sie löste die Versteinerung in überschwängliche Bewegung auf. Diese Movida fand in dem frühen Almodóvar ihren herausragenden Vertreter. Mujeres al borde de un ataque de nervios (Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs) (1988) ist ein Filmtitel, der sprichwörtlich geworden ist: überschwängliches Leben bis an den Rand der Hysterie, aber auch der Melancholie.

Das Melodram ist das Filmgenre, in dem die Gefühle mit einer Welt abgeglichen werden, die dafür eigentlich zu klein ist. Gerade dieses Missverhältnis hat Pedro Almodóvar zu einem der grossen Filmemacher werden lassen. Er ist, wie auf eine ganz andere Weise vielleicht nur noch Lars von Trier, dazu in der Lage, die inneren Welten mit den äusseren zu verknüpfen. Aber während der manisch-depressive Skandinavier für die äusseren Welten ins Mythologische und Archaische ausgreift, ist Almodóvar auch ein Chronist der modernen Lebenswelten. Als er auftauchte, war das klassische amerikanische Kino schon eine Weile tot, und die Postmoderne, das Zeitalter von Zitat, Hommage und Überschreibung, wurde gerade erst bemerkbar. Die Wohnungen von Madrid mit ihren surrealen Dachterrassen und Ausblicken auf einen künstlichen Himmel wurden zu einem seiner Markenzeichen. Almodóvars Kino schliesst an die Ära der Studios an, als Hollywood noch lieber Kulissen baute, als mit der Kamera nach draussen zu gehen. Was hinter den Fenstern liegt, wird gemalt. Selbst an Drehorten, an denen er mit natürlichem Licht und natürlichen Hintergründen arbeitet, sucht Almodóvar diesen Effekt des Artifiziellen, der zweiten Natur, der Überhöhung. Seine Ästhetik schafft selbst so etwas wie einen «room next door», eine Wirklichkeit neben der alltäglichen – überdeutlich zuletzt in der «malerischen» Schönheit von The Room Next Door, dem Freitod-Drama, für das er in Venedig letzten Sommer mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde.

Seine Position eines Vertreters des modernen europäischen Autorenfilms (und nicht des klassischen Hollywood) bringt es mit sich, dass er zwar die Stilmittel der Traumfabrik benutzt, aber von Beginn an nach anderen sozialen Formen als denen der konventionellen Familie gesucht hat. In seinen Filmen ging es immer schon darum, die Wahl eines Lebensmenschen in Gruppenbildungen und Freundschaftsmodelle aufzulösen. Selbst die Mutterfigur ist bei ihm oft «parallel», wie in einem seiner jüngsten Filme: Abstammung heisst Überschneidung. Auch in sexueller Hinsicht geht es ihm nicht um die wahre Identität, sondern um die Verbindungen, die sich aus der Suche nach ihr ergeben. Dabei lässt Almodóvar seine Figuren alles ausprobieren, was im weitesten Sinn bis zur Perversion (oder bis zu einem Missverständnis als Perversion) reichen kann.

Der Regisseur der Frauen
In seiner frühen Phase machte Almodóvar Filme, die schrill und bunt waren wie ein ewiges Kinderfernsehen, in dem sich die Neurosen der Grossen breitmachten. Er wird häufig als Stilist verehrt, als einer, der dem Autorenkino die Ästhetik zurückgegeben hat, der schwule Sensibilität für ein grosses Publikum zugänglich gemacht hat. Seine reife Phase begann 1995 mit La flor de mi secreto mit der grossen Marisa Paredes, einer der Säulen in seinem Werk. Almodóvar hielt von jeher vielen seiner Darstellerinnen die Treue, konzentrierte sich nun aber stärker auf deren individuelle Qualitäten, sodass er seither eine grosse Frauenrolle an die andere gereiht hat, mit einem Ensemble, das längst bis nach Amerika reicht, wo er zuletzt mit Tilda Swinton und Julianne Moore für The Room Next Door auf Englisch gedreht hat und wo auch Penélope Cruz längst angekommen ist. In Volver spielte sie 2006 die Bewegung des Gesamtwerks von Pedro Almodóvar noch einmal ganz ernsthaft nach und durch: «Zurückkehren» ist das grosse Motto. An dem «jungen» Spanien der liberalen Demokratie, das er bis ins inzwischen höhere Alter verkörpert, lässt sich besonders gut erkennen, wie eine Gesellschaft über einen Überschuss an Individualität und Libertinage hinweg neue, lebbare Traditionen schaffen kann. Es ist diese Bewegung einer guten Erziehung durch Kunst, in der in schillernder Prägnanz deutlich wird, was es heisst, auf diesem Kontinent Europa zu leben, wo es alle Freiheiten gibt und wo es nun darum geht, diese Freiheiten in Traditionen zu verwurzeln, die Fesseln nur noch für Spiele enthalten.
Bert Rebhandl

Bert Rebhandl lebt als freier Journalist, Filmkritiker (FAZ, Der Standard, tipBerlin) und Autor in Berlin. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift CARGO Film Medien Kultur (www.cargo-film.de).