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Francesco Rosi: Protest und Zivilcourage

Francesco Rosi (1922 – 2015) war einer der einflussreichsten Vertreter des politischen Kinos der 1960er- und 1970er-Jahre. Seine scharfsinnigen Analysen von Macht und Machtmissbrauch, im Spannungsfeld von institutionalisierter Gewalt und Widerstand, haben bis heute nichts an Aktualität eingebüsst. Seit Beginn seiner Karriere liess der gebürtige Neapolitaner keinen Zweifel an den fatalen Verflechtungen von organisiertem Verbrechen, Wirtschaft und Politik. Obwohl seine Filme auch immer wieder um Korruption und Spekulation in den grossen italienischen Städten kreisten, steht im Zentrum seiner Arbeiten die Auseinandersetzung mit den verarmten ländlichen Regionen des Südens, in denen die Mafia so fruchtbaren Boden fand. In all diesen Werken verbinden sich Protest und Zivilcourage auf beeindruckende Weise mit Rosis Filmsprache, die geschickt auf Genreelemente zurückgriff und damit die Massen zu begeistern verstand. Unsere umfangreiche Retrospektive wird begleitet von einem vertiefenden Gespräch mit Rosis Tochter Carolina, die auch einen Dokumentarfilm über ihren streitbaren, vor zehn Jahren verstorbenen Vater gedreht hat. Von oben herunter blickt die Kamera in einen Innenhof, in dessen Mitte ein Mann liegt, das weisse Unterhemd blutgetränkt, der Steinboden um ihn herum weitgehend blutfrei. Links neben dem Mann liegt ein Gewehr, oberhalb seines Kopfes eine Pistole, ein gutes Dutzend Männer steht und sitzt im Kreis um den Toten, ein Fotograf macht Aufnahmen. Der Innenhof liegt in einer Kleinstadt im Osten Siziliens, etwa 70 Kilometer südlich von Trapani. Elf Jahre bevor die Aufnahmen für Francesco Rosis Film Salvatore Giuliano entstanden, lag in dem Innenhof der echte Salvatore Giuliano, Bandit und Kämpfer im bewaffneten Arm der sizilianischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Umstände von Giulianos Tod sind bis heute ungeklärt, es existieren zahlreiche Versionen der Ereignisse, die sich teils grundlegend widersprechen.

Salvatore Giuliano wurde der internationale Durchbruch für Francesco Rosi, die Jury um King Vidor und Emeric Pressburger verlieh dem Film 1962 auf dem Filmfestival in Westberlin den Silbernen Bären für die beste Regie. Der Film wird bis heute angesichts von Rosis akribischer Rekonstruktion und des Drehs an Originalschauplätzen bisweilen als dokumentarischer Spielfilm missverstanden. Doch Salvatore Giuliano ist weit von einer blossen Rekonstruktion entfernt, versucht vielmehr den Tod des Banditen, der sich in Interviews selbst zu einer Art Robin Hood verklärte, als soziales Phänomen zu verstehen. Der Schriftsteller und Filmkritiker Alberto Moravia hat das schon in seiner Besprechung des Films verstanden: «Um den Film zu drehen, den er im Kopf hatte, musste Rosi eine komplett neue Form der Erzählung erfinden, die wir kollektiv oder episch nennen würden, wäre sie nicht in allererster Linie realistisch. Der Realismus einer Geschichte wie der von Salvatore Giuliano besteht genau in dem, was Rosi gemacht hat: in einem Panorama der komplizierten Angelegenheit, einem Verzicht auf jedwede fantastische Verstärkung oder Hinzufügung – ein historischer Respekt für die Widersprüchlichkeiten und die offensichtlichen Absurditäten, Barmherzigkeit mit Sizilien und seiner unglücklichen Bevölkerung.»

Komplexität in populärer Form
Vieles von dem, was Moravia an Rosis Film beobachtet, prägt dessen gesamtes Werk – der historische Aspekt ebenso wie eine humane Zugewandtheit zu Menschen (nicht zu verwechseln mit einer Verklärung der Bevölkerung). Das, was Moravia als Panorama beschreibt, trägt bisweilen Züge einer Collage, gerade dann, wenn es Rosi – wie so oft – weniger um das Herausarbeiten einer Wahrheit geht als um das Aufwerfen von Fragen. Eines fehlt jedoch in Moravias Aufzählung: Rosis Interesse für Genres. Genres dienen Rosi als Ausgangspunkt einer Interaktion mit dem Publikum, bei dem die Seherwartungen, die mit bestimmten Genres einhergehen, immer wieder Platz machen müssen für Abschweifungen.

Dieser bis heute immer wieder überraschenden Kombination aus Autorenfilm und Genrekino, die auch sperrige Themen in erstaunlich zugänglicher Form erzählbar machte, verdanken sich einige von Rosis bis heute eindrucksvollsten Filme. In Le mani sulla città (1963) zeigt Rosi korrupte Verbindungen zwischen Politik und Baubranche in einem langsamen Thriller. Der Film gewann 1963 den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig. Wenig später befragt der Filmkritiker Gideon Bachmann Rosi für «Film Quarterly». In einer der Antworten weist Rosi die Idee, seine Filme seien Transportmittel für Botschaften, von sich: «Ich will keine Propaganda produzieren. Ich glaube, mein Interesse an diesen Themen verdankt sich der Tatsache, dass wir in Italien erst spät die Demokratie errungen haben und dieser Prozess eigentlich noch andauert. Daher nimmt jeder von uns an diesem Erringen der Demokratie durch sein eigenes Bewusstsein im Alltag teil. Ich mache diese Filme also einfach im Sinne einer Teilhabe am täglichen Fortentwickeln der Gesellschaft, in der ich lebe. Ich mache sie vermutlich auf diese Weise, um mein eigenes Verständnis und das von anderen für unsere alltägliche Realität zu vertiefen.»

Die Realität als Thriller
Il caso Mattei (1972) beginnt mit dem bis heute umstrittenen Absturz des Direktors des staatseigenen Ölkonzerns Enrico Mattei auf dem Rückflug aus Sizilien 1962. In diesem Film treibt die Realität jene Form, die Rosi in Salvatore Giuliano entwickelt hatte, um einen ungeklärten Todesfall zu beleuchten, in Richtung Thriller. Vor den Dreharbeiten zu Salvatore Giuliano bat Rosi den Filmkritiker und Drehbuchautor Tullio Kezich, Einzelheiten des Falls zu recherchieren. 1970 beauftragte Rosi seinen Freund, den Journalisten Mauro De Mauro, mit Recherchen zu jener Reise Matteis, von der dieser nicht mehr zurückkehren sollte. Wenige Monate später wurde De Mauro entführt und seither nie wiedergesehen. Auch wenn eine Verbindung mit Untersuchungen zum Fall Enrico Mattei nur eine der möglichen Erklärungen für das Verschwinden De Mauros ist, scheint sie zu diesem Zeitpunkt für Rosi nachvollziehbarerweise auf der Hand zu liegen. Il caso Mattei gewinnt 1972 in Cannes ex aequo mit Elio Petris La classe operaia va in paradiso die Goldene Palme. Hauptdarsteller in beiden Filmen ist Gian Maria Volonté, einer der profiliertesten Schauspieler des politischen Kinos aus Italien in jenen Jahren und wiederkehrender Darsteller in Rosis Filmen.

Vier Jahre später ist Rosi erneut mit einem Film im Wettbewerb von Cannes vertreten. Dieses Mal ist es der paranoide Thriller Cadaveri eccellenti, basierend auf einer Buchvorlage des sizilianischen Intellektuellen und Schriftstellers Leonardo Sciascia. Der Kriminalpolizist Amerigo Rogas ermittelt in einem Fall von drei Richtern, die kurz nacheinander unweit voneinander ermordet werden. Später kommen weitere Morde hinzu, und die Versuche, Rogas’ Ermittlungen in Richtung von linken Splittergruppen zu lenken, werden deutlicher. Cadaveri eccellenti kombiniert Sciascias gelehrtes Vexierspiel mit imposanten Bildern des Bildgestalters Pasqualino De Santis, mit dem Rosi seit Mitte der 1960er-Jahre zusammenarbeitet.

Neu gewonnene Vielfalt
Im Werk Rosis ist Cadaveri eccellenti je nach Perspektive Endpunkt einer Entwicklung, die die anderthalb Jahrzehnte seit Salvatore Giuliano überspannt, oder Befreiungsschlag. So oder so werden Rosis Filme ab Ende der 1970er-Jahre vielfältiger. Mit einer zentralen Veränderung: Waren Historienfilme in der Zeit bis Mitte der 1970er-Jahre die Ausnahme (C’era una volta von 1967, Uomini contro,1970), bilden sie nun die Regel. Zudem häufen sich die Adaptionen von literarischen Vorlagen.

Eines jedoch bleibt konstant im Werk Rosis: der Fokus auf den italienischen Süden. Dieser Fokus existierte schon, bevor Rosi, der 1922 in Neapel geboren wurde, überhaupt anfing, eigene Filme zu realisieren. Der erste Film, an dem Rosi mitwirkt, ist Luchino Viscontis La terra trema. Bei Viscontis Drama über die Fischer von Aci Trezza ist Rosi einer der Regieassistenten. Für die italienische Linke der Nachkriegszeit war die Questione meridionale, die Südfrage, eine der zentralen politischen Fragen. Für Francesco Rosi blieb sie bis zu seinem Tod im Januar 2015 Dreh- und Angelpunkt seiner Filme.
Fabian Tietke

Fabian Tietke ist Filmkritiker und Programmgestalter von Filmreihen in Berlin.

Zusatzinformationen: Für die Unterstützung danken wir dem Istituto Italiano di Cultura di Zurigo.