Guy Maddin: Schlafwandelnd tagträumen
Liegt es daran, dass in seiner kanadischen Heimatstadt Winnipeg der Winter derart lang und kalt ist? Guy Maddins Kino ist so versponnen, traumartig und schön, dass es vielleicht wirklich nur an einem Ort entstehen kann, an dem man die eigenen Tagträume in die Nebel des Polarlichts projizieren muss, um die dunkle Jahreszeit einigermassen heil zu überstehen. Seinen ersten Film, Tales From the Gimli Hospital, drehte der Autodidakt noch im Schönheitssalon seiner Tante, den letzten, Rumours, präsentierte er vergangenen Frühling am Filmfestival in Cannes. Dazwischen liegt ein Œuvre, das sich einmal die gesamte Filmgeschichte einverleibt hat, um sie dann mit den eigenen Obsessionen bestückt und erotisch aufgeladen neu zusammenzusetzen: Filme, die an das sowjetische Montagekino erinnern, aussehen wie fehlerhafte Technicolor-Kopien oder mit dem Look früher Digitalfilme spielen. Wenn Isabella Rossellini das traurigste Lied der Welt mit einem Schluck Bier aus ihrer gläsernen Beinprothese belohnt oder Cate Blanchett als Angela Merkel am Rand des G7-Gipfels mit dem kanadischen Premier einen Quickie im Wald wagt – dann befinden wir uns in der Welt von Guy Maddin! Beware! Beware: Der Meister ist am 7. und am 9. April für die Premiere von Rumours sowie für eine Lecture im Filmpodium zu Gast!
Guy Maddins Kurzwerk The Heart of the World anzuschauen, das ist, als bekäme man die konzentrierte Erinnerung an einen ganzen Spielfilm direkt in die Hirnrinde injiziert. In sechs Minuten erlebt man den Kampf zweier Brüder um eine Wissenschaftlerin – die sich zur Rettung der herzkranken Welt lieber fürs Selbstopfer entscheidet. Aber was heisst: die Erinnerung an «einen» Film? An eine alternative Filmhistorie, die es so nie gegeben hat! Wo russische Propaganda, Passionsspiel und Pornografie wild und gewitzt ineinanderspuken. Es taugt dieser Kondensfilm auch als Pars pro toto für den gesamten Guy-Maddin-Kosmos. Für ein Œuvre, das wunderbar wuchernd, wandelnd, ausfransend ist. Das sich – sosehr Restriktion ein Leitmotiv in Maddins Filmen ist – gern jeder Fixierung entwindet. Ein Werk, oft in Kollaborationen entstanden, in dem Filme mit wechselnden Live-Erzählstimmen aufgeführt, Galerieinstallationen zu Spielfilmen, vermeintliche Outtakes Jahre später nachgedreht wurden. Maddin praktiziert Filmografie als «false memory». Getrieben von der fixen Idee, dass auch das Unverrückbarste von allem noch modellierbar sei: das Vergangene.
«Oh! The past! The past!»
(Brand upon the Brain!)
Wie präsent die Vergangenheit ist, springt gleich bei der ersten Begegnung mit Maddins Werk ins Auge. Seine Filme wirken nicht gemacht, sondern gefunden. Heraufgeholt aus der Ur- und Frühgeschichte, der Kinderstube des Kinos. Nach Jahrzehnten Dachbodentruhen-Schlummer durch einen Projektor mit Zahnradlücken gejagt. Anfangs ist der selbst ausgerufene «Primitivismus» des Autodidakten eine strategische Wahl. Ein Modus des Filmemachens, bei dem Imperfektion kein Scheitern ist, sondern die Bilder, die Welt reicher, rätselhafter macht. Ein Schatten ist das billigste Requisit, witzelt der Regisseur, der gern im LoFi-Formatmix, auf Super8, 16 mm, in handgebastelten Kulissen dreht. Als Feind des Verhärteten liebt er Schwellentechniken: das Zweistreifen-Technicolor, die Part-Talkies. Aus Phasen, als tüftelnd, träumend noch mal neu erfunden wurde, was das überhaupt ist, dieses «Kino». Als er selbst in den Paradigmenwandel zum digitalen Kino gerät, manipuliert er zunächst die Pixel zu Simulationen von Verfall, Verwesung, um seine Filme noch analoger wirken zu lassen. Doch bei dieser Ästhetik klinkt von Anfang an etwas ein in alles, was Maddin tief umtreibt. Es ist ein Kosmos der Überhöhung, wo Pathos und absurde Komik nahtlos ineinander übergehen. Careful, seine märchenartige Kombination aus Bergfilm und Inzestdrama in einer Welt, wo jedes laute Wort eine Lawine auslösen kann, hat er eine Oper ohne Gesang genannt. Die Bezeichnung trifft zu auf viele seiner Filme. Man könnte eine Registerarie der Einflüsse quer durch die halbe Filmgeschichte heruntersingen. (Und eine weniger offensichtliche, mit Namen wie Bruno Schulz, Robert Walser, Herman Melville, durch die Literatur.) Doch es geht nie ums wissend nickende Wiedererkennen. Er zitiert Filme, die er nie gesehen hat, erweist Filmen Hommage, die es nie gab, sagt Maddin. Es geht um ein Vorwühlen bis dorthin, wo die frühesten Erinnerungen sitzen.
«Winnipeg! Winnipeg! Winnipeg!»
(My Winnipeg)
Guy Maddin, geboren am 28. Februar 1956, wächst auf zwischen «Eishockey-Tornetz und Haarnetz»: Der Raum der Männer ist die Winnipeg Arena. Der Vater leitet nebenberuflich Eishockeymannschaften. Der kleine Guy reicht den nackten Spielern unter der Dusche die Handtücher. Ein Quell wohl für die homoerotischen Anklänge in seinem Werk. Der Raum der Frauen hingegen ist Lil’s Beauty Shop, der Damenfriseursalon von Tante und Mutter im Erdgeschoss unter der Familienwohnung. Der kleine Guy lugt immer wieder durch verborgene Öffnungen, erfährt die Erotik des Voyeurismus. Als er für seinen ersten Spielfilm Tales From the Gimli Hospital isländische Sagen und subpolare Seuchenhistorie zum Delirium mischt, nutzt er den Salon als improvisiertes Studio. Früh sind da Verlusterfahrungen: 1963 erschiesst sich sein älterer Bruder Cameron auf dem Grab seiner bei einem Unfall ums Leben gekommenen Freundin. Das Leben ist ein Melodram. Der Vater stirbt, als Maddin 21 ist. In Guys Träumen ist Dad nur zu einer anderen Familie gewandert, stattet ab und zu noch Besuche ab. Daraus entspringt das Kurzfilmdebüt The Dead Father. Seine erste Filmbildung verdankt Maddin (neben dem kanadischen TV) in den Sommerferien dem Kino in Gimli. (Eine Million Madeleines unter einem Dach, sagt er heute darüber proustend.) Später langen Wochenenden eines privaten Cine-Nerd-Zirkels im WohnWohnzimmer eines Filmprofessors. Maddin ist eher cinephag als cinephil, frönt dem omnivoren Einverleiben und Metabolisieren von Kino. Kanada bietet ihm eine ideale Basis für seine Kunst – nicht allein wegen der staatlichen Kunstförderung. Winnipeg, leer, eisig, flach, ist ideale Tabula rasa für einen (auch in Interviews) manischen Mythologisierer wie Maddin. Ein Fabulist, bei dem Geschichten-in-Geschichten einander gebären wie Matrjoschkapuppen. In den USA muss man sich abarbeiten an nationalem Erbe, Kanon, Ikonografie. Er ist frei, seine eigenen Mythen zu begründen: In der «Dokufiktion» My Winnipeg die Realität mit seiner persönlichen Stadtgeschichte zu überschreiben, ist etwas sehr anderes als ein My New York.
«The past! The past! The future!!»
(Brand upon the Brain!)
Maddins Kino ist nicht nostalgisch. Nostalgie will fliehen in ein vermeintlich besseres Früher. Maddin will den Zeitpunkt ins Heute beschwören, wo alles neu und offen war, man Filme erst lesen lernte. «Ich will das aufregende Gefühl nacherschaffen, das ich als Bub hatte, als ich endlich drei Wörter am Stück entziffern konnte!», schreibt er zu The Saddest Music in the World. In dem Isabella Rossellini (eine grosse Maddin-Unterstützerin) eine Brauerei-Baronin mit biergefüllten Glasbeinen spielt, die einen Wettbewerb ausruft um das traurigste Lied der Welt. «Rust never sleeps», um es mit dem Winnipeger Neil Young zu sagen. Maddin verharrt nie. Variiert, wandelt, wandert. Hat sich vom Stummfilm zu Hitchcock vorgearbeitet. Mit My Winnipeg war im Autobiografischen, mit The Forbidden Room im Filmhistorischen ein Punkt erschöpfender Kulmination erreicht. Mit Rumours scheint, in Koregie mit seinen aktuellen Mitverschwörern Evan und Galen Johnson, eine neue Phase des Schaffens eingeläutet. Der in Cannes uraufgeführte Film flirtet mit HD-Video-Look. Ist eine Satire auf die Hochpolitik (mit Cate Blanchett als Quasi-Merkel). Bis der über eine dräuende Weltkatastrophe debattierende G7-Gipfel sich im Wald verstolpert und in den Bann eines Riesengehirns gerät. Das Hirn ist bei Maddin nicht Sitz der Ratio, sondern ein trügerisches, fieberträumendes Organ. Wie unsere Träume sind Maddins Filme durchzogen von wiederkehrenden Motiven: das Eifersuchtsdreieck, bei dem sich die wahre Erotik zwischen zwei rivalisierenden Männern entspinnt. Bizarre Panopticon-Apparate, Schalltrichter und geflüsterte Geheimnisse. Der Gedächtnisverlust – das Umkehrbild zur Erinnerungsobsession. Es gibt munteren Kannibalismus, lustvolles Siechtum, absurde Amputationen. Alles gern mit einem Hauch von BDSM. Vor allem aber: Wiederauferstehungen. Wieder- und Doppelgänger. Um das etwas ausgeleierte Zitat eines anderen Winnipegers, Marshall McLuhan, zu bemühen: «The medium is the message.» Bei Maddin ist Film aber «Medium» auch im spiritistischen Sinn. Eine Verbindung ins Jenseitsreich des Toten, Vergessenen. «Seances» heisst das Online-Parallel-Projekt (seances.nfb.ca) zu The Forbidden Room. Heraufbeschworen werden in beidem: verschollene Filme. Nach überlieferten Beschreibungen als Kurzfilme neu gedreht und frankensteinartig zusammengenäht. Im Materiellen wie in den Geschichten ist bei Maddin die Erfahrung von Vergänglichkeit, Verlust zugleich tief eingeschrieben und ausgelöscht. Aufgehoben im dreifachen Sinn: bewahrt, überhöht, getilgt. In seinen veröffentlichten Tagebüchern schreibt er: «Ich habe stets meine Unfähigkeit bedauert, im gegenwärtigen Moment die angemessenen Gefühle zu haben. Träume zu benötigen, um dann später zu lieben – auf Ratenzahlung.» Das Vergangene, Verlorene zurückzuholen bedeutet, noch eine Chance zu haben, ihm die bei Lebzeiten zu wenig gezeigte Liebe entgegenzubringen. Das Heilmittel für das Heart of the World wie für unser aller Herzen heisst: KINO!
Thomas Willmann
Thomas Willmann lebt als freie Autor in München. Seine Filmkritiken erscheinen u.a. im Münchner Merkur und bei artechock. Sein Debutroman «Das finstere Tal» wurde von Andreas Prochaska verfilmt.
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