Der Surrealismus ist nicht das Gegenteil, sondern vielmehr die Übersteigerung des Realismus – so sagt es schon sein Name. Entsprechend schnell kann präzise Beobachtung ins Traumartige kippen. Die Tierfilme von Jean Painlevé gelten nicht nur als Pionierleistungen des dokumentarischen Films, sondern wurden auch als surrealistische Kunstwerke gefeiert, etwa wenn in La pieuvre ein Oktopus mit einem Totenschädel zu kopulieren scheint oder in seinem Fledermausfilm Le vampire plötzlich auch Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu sowie Anspielungen auf die Nazis auftauchen. Painlevé hat nicht nur Georges Franjus Stil inspiriert, in dem sich chirurgische Genauigkeit und surreale Poesie mischen, sondern war auch sein Arbeitskollege am Institut de cinématographie scientifique, dem Franju als Generalsekretär vorstand. Jean Epsteins Klassiker des surrealistischen Stummfilms, die Edgar-Allan-Poe-Adaption La chute de la maison Usher, war Teil des ersten Programms des von Franju zusammen mit Henri Langlois gegründeten Filmclubs «Cercle du cinéma». Und ob Franju beim Titel seines Films Les yeux sans visage nicht unweigerlich auch an die vom Gesicht losgelösten Augen aus Glas in Henri Storcks verstörendem Filmgedicht Pour vos beaux yeux denken musste? (Johannes Binotto)
Gesamtdauer: 95 Min.
«Studie des Kraken in seinem Lebensraum. Der erste populärwissenschaftliche Dokumentarfilm von Jean Painlevé. (…)
Der Film von Jean Painlevé steht (…) in einer etablierten Tradition. Malerische Eröffnung und Schliessung (wahrscheinlich die Bucht von Pellinec), naturalistische Erkundung, abwechselnd Aussenaufnahmen und Aufnahmen im Aquarium, Darstellung der wichtigsten Eigenheiten des Tieres (die Tentakel und Saugnäpfe, die grossen Augen mit goldener Iris, die Kiemen, die Pigmentierung usw.), nicht zu vergessen die unvermeidlichen ‹Kämpfe› (hier mit einem Hummer und mit Krabben) und die pathetischen ‹Todeszuckungen› (…).
Einige viragierte Aufnahmen weisen jedoch bereits auf den ‹zoologischen Surrealismus› (…) hin, der später zu Painlevés Markenzeichen werden sollte: Ein Krake reitet auf einer grossen Puppe in einer wahrscheinlichen Reminiszenz an ‹Les chants de Maldoror›; ein anderer fällt von der Astgabel eines Baumes auf einen grinsenden menschlichen Schädel am Boden eines Aquariums (eine ironische Anspielung auf ‹Halieutica› von Oppian von Korykos und ‹Les travailleurs de la mer› von Victor Hugo).»
(Thierry Lefebvre, cinematheque.fr)
«Ich lernte den Kraken im Jahr 1911 kennen: Ich war neun und fuhr mit meiner Familie nach Roscoff, dessen meeresbiologische Station damals aus einem grossen Aquarium bestand, das man bestaunen konnte. Ich war so beeindruckt, dass ich Zoologie studieren wollte – und tatsächlich machte ich als Student nähere Bekanntschaft mit diesem Tier. Es wurde zum Thema meines ersten öffentlich gezeigten Films im Jahr 1927.» (Jean Painlevé, Viennale)
Kamera: Jean Painlevé
13 Min., sw, 35 mm, stumm, f+d Zw'titel
«Pour vos beaux yeux zeigt in 75 Einstellungen eine Meditation über den Blick. Ein junger Mann findet ein Glasauge und diese kleine, aber aussergewöhnliche Entdeckung führt den Zuschauer in eine Welt der optischen Obsession. Der Protagonist schwankt zwischen Anziehung und Abstossung. Nach einem gescheiterten Versuch, das Auge an einen Optiker zu verkaufen, landet es in einem Postpaket, bereit, die Welt zu sehen, zumindest suggerieren das die Bilder zahlreicher Landkarten. Doch je weiter dieses visuelle Experiment voranschreitet, desto mehr scheinen die Augen auf eine innere Welt zu blicken. Das Postpaket wird nicht angenommen und so bleibt das Auge im Besitz der Hauptfigur, die beschliesst, einen rituellen Tanz um das gefundene Objekt aufzuführen. Ironischerweise trägt sie eine Maske: Vielleicht will sie sich verstecken, um nicht mehr von dem starrenden, aber unpersönlichen Auge gesehen zu werden?
Pour vos beaux yeux ist einer der ersten Filme des belgischen Filmemachers Henri Storck und entstand in Zusammenarbeit mit dessen Freund Félix Labisse, einem Maler, der auch das Drehbuch schrieb. Storck war gerade aus Paris zurückgekehrt und offensichtlich von Luis Buñuel beeinflusst, der ein Jahr zuvor Un chien andalou in Zusammenarbeit mit Salvador Dalí gedreht hatte.» (Pop-culture.fandom.com)
Drehbuch: Félix Labisse
Kamera: Henri Storck
Mit: Félix Labisse, Ninette Labisse, Henry Van Vyve
7 Min., sw, Digital HD, stumm
«Während seine schöne junge Frau Madeleine langsam an einer schrecklichen Krankheit dahinsiecht, bittet der passionierte Künstler Roderick Usher seinen alten Freund Allan, ihm in dieser düsteren Zeit Gesellschaft zu leisten. Kurz nachdem Allan eingetroffen ist, stirbt Madeleine. Während Roderick in Melancholie versinkt, ertönen Geräusche aus Madeleines Grab (...). Epsteins poetische Experimente mit der Erzählform, seine unheimlich beleuchteten Landschaften und Innenräume, seine komplexen Überlagerungen von Positiv- und Negativbildern und vor allem seine Faszination für die Zeitlupenfotografie, die, wie er sagt, ‹eine neue, rein psychologische Perspektive› eröffnet, machen diesen Poe-Adaption zu einem Klassiker des Kunstkinos.»
«Obwohl Buñuel sich von Epstein (...) trennte, bevor der Film fertiggestellt wurde, ist es aufgrund der kühnen surrealistischen Elemente offensichtlich, dass er einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des Films hatte. Die Beerdigungssequenz in Zeitlupe, die haarsträubend wie komisch wirkt, hat einen ähnlich subversiven Ton wie Buñuels surrealistisches Meisterwerk Un chien andalou (1929). Die expressionistischen Züge, die dem Film seine gespenstische Traumhaftigkeit verleihen, sind jedoch eher das Werk Epsteins, der stark vom frühen deutschen Kino beeinflusst war.» (James Travers, frenchfilms.org)
«Mitte der 1930er-Jahre führte Henri Langlois Georges Franju eines Abends in das Studio 28 auf dem Montmartre, wo einige Jahre zuvor die ersten surrealistischen Filme vor einem begeisterten Publikum gezeigt worden waren. Auf dem Programm standen Vorführungen von Jean Epsteins La chute de la maison Usher und Buñuels und Dalís Un chien andalou (1929). Nach der Vorführung war Franju begeistert, und die beiden eröffneten später ihren eigenen Ciné-Club auf den Champs-Élysées. Doch das filmbegeisterte Duo wollte nicht nur interessante Werke vorführen, sondern auch sammeln – um eine Cinémathèque aufzubauen. 1935 erwarben Franju und Langlois den ersten Titel einer Sammlung, die als Cinémathèque française bekannt werden sollte: Jean Epsteins La chute de la maison Usher.» (Shari Kizirian, silentfilm.org, 2009)
Drehbuch: Jean Epstein, nach Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe
Kamera: Georges Lucas, Jean Lucas
Mit: Marguerite Gance (Lady Madeleine Usher), Jean Debucourt (Sir Roderick Usher), Charles Lamy (Allan), Fournez-Goffard (Arzt), Luc Dartagnan (Diener), Pierre Hot, Pierre Kéfer
66 Min., tinted, DCP, stumm, f Zw'titel/e
«Oberflächlich betrachtet geht es in Le vampire um Fledermäuse und den Vampirmythos, doch der Film hat auch einen starken antinazistischen Unterton. Der 9-minütige französische Dokumentarfilm zeichnet den Weg von der Vampirfolklore Europas zur Vampirfledermaus in Brasilien nach. (…) Painlevé verwendet surreale Schwarzweissbilder mit einer gotischen Titelschrift, um die entsprechende Stimmung zu kreieren. Es werden auch Bilder aus F. W. Murnaus stummem Meisterwerk Nosferatu von 1922 gezeigt. (…) Mit seinem einzigartigen Beitrag zum wissenschaftlich-poetischen Kino schlägt Jean Painlevé eine Brücke zwischen den Welten von Wissenschaft, Kunst, Politik und Film. Er findet die Erotik in der Natur und die Schönheit in der ultimativen Seltsamkeit der Welt um uns herum. In Le vampire sehen wir einen Filmemacher, Wissenschaftler und Künstler auf dem Höhepunkt seines Schaffens.»
(Marya E. Gates, nerdist.com, 25.5.2021)
«Ich hatte eine ziemlich dumme Cousine, die glaubte, dass der Vampir so heisst, weil seine Flügel viel Wind produzieren (vent-pire). Ich weiss noch immer nicht, warum Finnwale sich umbringen, indem sie sich an die Küste werfen. Dabei bin ich mit Hunderten von Tierarten vertraut, ganz abgesehen von den Menschen. Es muss wohl eine Vorahnung gewesen sein, als ich 1939, unmittelbar vor dem Krieg, die Bilder vom Vampir machte. Fledermäuse sind seit jeher ein Symbol für den Teufel und werden von den Bauern kurzerhand an die Haustür genagelt. Murnau machte, gemäss der Legende, aus dem Vampir einen Menschen, und Sie werden in diesem Film einen kleinen Ausschnitt sehen. Ich habe die Effekte mit Musik von Duke Ellington hervorgehoben, was meine skandalöse Herangehensweise an die Wissenschaft noch unterstrich. Damals gab es in den grossen Bahnhöfen Wochenschaukinos, in denen Kurzfilme gezeigt wurden; im Hauptbahnhof von Kopenhagen lief Le vampire zwei Jahre lang. Der Leiter der dänischen Kinemathek meinte, in dem Film käme mein ganzer Sadismus zum Ausdruck.» (Jean Painlevé, Viennale)
Kamera: Jean Painlevé
Musik: Duke Ellington
Mit: Jean Painlevé (Erzähler)
9 Min., sw, 35 mm, F/e