Filme aus Georgien: Traditionsbewusst, gegenwartsnah und voller Humor
Aus der kulturellen Tradition des Landes heraus – aus Literatur, Malerei, Musik, Theater und Tanz – hat das georgische Kino seine formale und inhaltliche Eigenständigkeit, seine phantastische, oft surreale Fabulierfreude entwickelt. Dass das reiche Filmschaffen der Kaukasus-Republik in Westeuropa bekannt wurde, ist auch Ulrich Gregor zu verdanken, der schon in den siebziger Jahren eine Auswahl georgischer Filme im Berliner Arsenal-Kino zeigte. Wir haben den profunden Kenner um eine persönliche Einstimmung in diese eigenwillige Kinematographie gebeten.
Wo beginnen, wo aufhören, wenn man vom georgischen Kino, seiner Tradition und seinen Werken sprechen will? Unverwechselbar ist dieses Kino, poetisch, mutig, phantastisch, traditionsbewusst und doch gegenwartsnah, es hat eine alte Geschichte, die in die Stummfilmzeit zurückreicht, es hat grosse Persönlichkeiten, Schöpferfiguren und Werke, die Meilensteine waren. Zum Beispiel Kalatosows expressiver Dokumentarfilm Das Salz Swanetiens (1930), ein Meisterwerk des ethnographischen Kinos, vergleichbar mit dem frühen Buñuel Las Hurdes/Tierra sin pan (1932), der schon früh unser Bild des Landes geformt hat und gleichzeitig den Horizont auf eine neue Kinematographie öffnete. Oder ein weiterer berühmter Stummfilm, Elisso (1928) von Nikolai Schengelaja, dem Urvater der Schengelaja-Familie, deren Mitglieder den georgischen Film massgeblich prägten. Andere Perlen aus der Frühzeit des georgischen Films wurden erst spät entdeckt, so Kote Mikaberidses Meine Grossmutter von 1929, eine funkensprühende, formal einfallsreiche, antibürokratische Satire.
Zehn Filme und eine neue Filmwelt
1975 organisierten die «Freunde der Deutschen Kinemathek» in Berlin im alten Arsenal-Kino zum ersten Mal eine georgische Filmwoche, wir hatten die Werke den Funktionären des sowjetischen Films, die damals über Veranstaltungen mit georgischen Filmen im Ausland zu befinden hatten, buchstäblich abgerungen. Wir zeigten zehn Filme von Iosseliani, Abuladse, den drei Schengelajas, Lana Gogoberidse und Merab Kokotschaschwili. Es war ein eindrucksvolles, weitgespanntes Programm, auch aus heutiger Sicht. Von da datiert unsere enge Beziehung zum georgischen Kino und unsere Freundschaft mit vielen seiner Regisseure. So zu Otar Iosseliani, der als Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin lebte und dessen wunderbare und brillante spätere Filme, obgleich in Frankreich entstanden, in Erzählweise und Regie, in ihrem versteckten Humor und in ihrer Philosophie voll georgischer Eigenarten sind. Besonders gern erinnern wir uns an Iosselianis frühe Filme wie Pastorale (1976), das Porträt eines Dorfes und einer Gruppe junger Musiker, und Es war einmal eine Singdrossel (1970) mit Gela Kandelaki, der die Hauptrolle eines verträumten jungen Musikers spielt und später eigene Filme drehte.
Unvergesslich sind die Filme der Schengelajas (Georgi und Eldar), unübertroffen in ihrem bizarren Humor, ihrem satirischen Scharfblick und ihrer Poetik. Georgi Schengelajas Pirosmani (1969), ein Porträt des naiven Volksmalers Niko Pirosmanaschwili, ist ein Schlüsselfilm des georgischen Kinos, er wurde zu unserem Lieblingsfilm.
Gute sowjetische Filme kommen aus Georgien
Von 1975 an konnten die Ostblock-Länder auch offiziell an der Berlinale teilnehmen. Von da an richtete sich unser Blick auf unseren Erkundungen und Expeditionen nach neuen Filmen für das Internationale Forum des Jungen Films der Berlinale immer wieder nach Georgien. Misstrauisch sagte man uns in Moskau bei der zentralen Filmbehörde Goskino: «Warum müssen sowjetische Filme denn immer aus Georgien kommen?» – Es waren nun mal die besten, daran bestand für uns kein Zweifel. Wir fanden grossartige Werke, die uns und die Zuschauer begeisterten: Blaue Berge (Eldar Schengelaja, 1984), Der Baum der Wünsche (Tengis Abuladse, 1977), Kandelakis Das Unglück (1979) und Dato Dshanelidses Leuchtkäferchen (1985), Alexander Rechwiaschwilis Die Stufe (1986), um nur einige wenige Titel zu nennen. Widerstrebend wurde uns der eine oder andere dieser Filme zugestanden, die Kopien kamen jedoch zu unserem Leidwesen häufig in der russisch synchronisierten Version.
Einen eigenen Text müsste man über Sergej Paradshanow schreiben, dessen genialer Film Sajat Nova (auch: Die Farbe des Granatapfels, 1969) von Armenfilm produziert wurde. Paradshanow ist nur schwer einer einzelnen Region zuzuordnen, denn er drehte Filme in der Ukraine, später aber auch in Georgien, so Die Legende der Festung Suram (1985). Er lebte lange Zeit (und vielleicht am liebsten) in Tiflis, wo ein Denkmal für ihn errichtet wurde. In allen Filmen Paradshanows findet man seine unverwechselbare Handschrift und seine Persönlichkeit. Tarkowskij sagte uns einmal in den achtziger Jahren, dass es für ihn in der UdSSR nur zwei bedeutende Regisseure gebe, Paradshanow und Sokurow (Letzterer war damals praktisch unbekannt).
Spiegel der Zeitgeschichte
Und noch eine Eigenschaft der georgischen Filme muss man nennen: den Mut, auch in der Zeit des kommunistischen Regimes politische Tabus zu unterlaufen und auf persönliche Weise von den brennendsten politischen und geschichtlichen Fragen zu sprechen. Hier möchte ich Filme von Lana Gogoberidse erwähnen (Einige Interviews zu persönlichen Fragen, 1978, und Der Walzer auf der Petschora, 1992), Irakli Kwirikadses Der Schwimmer (1980) und natürlich Tengis Abuladses grossartige Abrechnung mit dem Stalin-Regime, Die Reue (1984). In diesen Filmen wurde früh schon in einer manchmal surrealistisch-metaphorischen, dann wieder autobiographischen Manier die Wahrheit über ein Kapitel Zeitgeschichte ausgesprochen, das mit dem Zerfall der Sowjetunion sein Ende fand.
Von den neunziger Jahren bis heute spiegeln die georgischen Filme eine andere Realität: Sie zeigen ein Land, das nach einer neuen Orientierung sucht. Es sind Regisseure wie Dito Tsinsadze, Nana Dshordshadse, Lewan Glonti, Aleko Tsabadse, Sasa Chalwaschi, Levan Tsakareishwili und Nino Kirtadse, die das heutige georgische Kino vertreten. Wir hoffen, dass ihre Arbeit trotz aller existenziellen Schwierigkeiten, mit denen georgische Filmemacher heute zu kämpfen haben, eine Fortsetzung findet, und zwar nicht nur im Ausland, sondern auch in Georgien selbst, und sei es in Form von Koproduktionen (wie Der Mann aus der Botschaft von Dito Tsintsadse, 2006). Dazu gehört auch die Rekonstruktion der georgischen Kinolandschaft, die heute einem Trümmerfeld gleicht. Es gibt aber Anzeichen für eine Wiedergeburt des georgischen Films. Es gibt weitere neue Filme, es gibt Unterstützungsmassnahmen verschiedener Länder (auch der Schweiz) und es gibt neue Initiativen. Zu erwähnen sind etwa das ambitionierte Filmfestival in Tiflis, das 2006 zum siebten Male stattfand, und die Aktivitäten des Nationalen Georgischen Filmzentrums. Insgesamt ist die Präsenz des georgischen Kinos in der Welt, auf Festivals und Retrospektiven, wieder stärker spürbar. Dabei werden sowohl die renommierten Klassiker gezeigt als auch Vertreter des neuen georgischen Kinos.
Ulrich Gregor
Ulrich Gregor war 1971 Gründer und bis 2000 Leiter des Internationalen Forums des Jungen Films, einer der wichtigsten Festivalsektionen der Berlinale. Der Filmkritiker und -historiker verfasste u. a. zusammen mit Enno Patalas eine «Geschichte des Films» (1962), der er 1978 eine «Geschichte des Films ab 1960» folgen liess.
Zusatzinformationen:
Da die Filme meist zugleich in einer georgischen und einer russischen Fassung entstanden, haben wir die Originaltitel jeweils in beiden Sprache angegeben. Die Schreibweise der Eigennamen wurde nach Möglichkeit vereinheitlicht und für die deutschsprachige Leserschaft weitgehend in die «aussprachenahe Transkription» nach Duden gebracht, stimmhaftes sch jedoch mit sh notiert.