Marx Brothers: Hemmungslos schräg
Als Schlussbouquet unseres Begleitprogramms zum 50. Jahrgang der Zeitschrift «Filmbulletin» sind die sechs ersten, wildesten, komischsten Filme der Marx Brothers zu sehen: von Cocoanuts (1929) bis zu A Night at the Opera (1935). Chefredaktor Walt R. Vian über sein Wunschprogramm.
Stark vereinfacht könnten Groucho, Chico und Harpo, die drei prägenden der fünf Marx Brothers, als Komiker bezeichnet werden. Doch da sie jegliche Zuschreibungen geflissentlich überhörten, hätten sie auch diese achtlos unterlaufen: «Whatever it is, I am against it.»
Destruktion? Dekonstruktion!
Die gängige Aussage, die brüderlich verbundenen Marxisten – die mit dem bärtigen Ideologen gerade mal vier Buchstaben gemeinsam haben – würden «Chaos und Anarchie verbreiten», ist unangemessen, denn die Marx Brothers decken nur auf und machen sichtbar, in welch anarchischem Chaos unsere Gesellschaft sich wohnlich eingerichtet hat. Nur scheinbar lassen sie sich von Destruktionsgelüsten leiten. Genauer betrachtet, huldigen sie der Dekonstruktion. Aus dem «viaduct», das die Insel mit dem Festland verbindet, macht Chico problemlos «Why-a-duck?» – Warum denn nicht ein Huhn, statt der Ente? Weil man mit einem Huhn übers Wasser nicht auf die andere Seite gelangen kann.
Groucho, mit dem notorisch tiefliegenden Gang, fragt die Operndiva vor versammelter Presse: «Stimmt es, dass Ihr Mann sich scheiden lässt, sobald er wieder sehen kann?» Zum Staatspräsidenten avanciert, kann er einen Krieg nicht mehr verhindern, denn: «Zu spät! Ich habe das Schlachtfeld schon für einen Monat gemietet.»
Der Satiriker und Drehbuchautor Sidney J. Perelman formulierte treffend: «Grouchos beste Eigenschaft lag in der Fähigkeit, seine eigene Position dauernd zu verändern, mit einem Satz oder einer Bewegung eine völlig neue Situation zu schaffen oder sie zu zerstören, mit ihr zu spielen und sie rasch gegen eine andere Identität oder Pose einzutauschen.»
Abgründe des Marx’schen Universums
Von Groucho engagiert, sollen Chico und Harpo einen Vertrag unterzeichnen. «He, da steht ja nichts auf dem Papier.» – «Das ist okay. Das wird später eingefüllt.» – «Moment mal, das ist nicht legal. There's no seal on it. Where's the seal?» Und schon liegt er auf dem Tisch, hervorgezaubert aus den unendlichen Abgründen von Harpos Mantel – der Seehund.
Harpo reicht auch dem Bettler, der ihn um einen Batzen für einen Kaffee anpumpt, das Gewünschte, frisch aufgebrüht, aus dem Mantel in die Hand. Und wenn Harpo einmal mit einer Schere zugange ist, macht er kurzen Prozess mit allem, was an Status und Prestige gemahnt: Krawatten, Frackschösse, Zigarren, Federn. Harpo funktioniert wie eine Maschine: Er säuft an der Reception die Tinte aus, frisst das Telefon, Blumen und Knöpfe an der Uniform des Pagen.
Chico, der Underdog, radebrechend, mit italienischem Einwandererakzent («No, I no think so»), enthüllt nicht nur Leerstellen in der Kommunikation, er ist auch aufs Geld so versessen, dass er jemanden dafür umbringen könnte, sogar Harpo. «Nein, du bist mein Freund», korrigiert sich Chico: «Dich würde ich umsonst umbringen.»
Jahrelang waren die Marx Brothers praktisch nur Insidern bekannt. Aber mittlerweile – bald einmal achtzig Jahre nach der Premiere des ersten Films – ist ein «Marxismus light», mit ähnlich strukturierten Gags und vergleichbaren Pointen, häppchenweise auch in der spassigen Abendunterhaltung des Fernsehens angekommen. Leisten Sie sich jetzt, da wieder einmal Gelegenheit dazu ist, das Vergnügen, die Originale in voller Länge zu geniessen und unverzagt in die unendlichen Abgründe des Marx’schen Universums zu blicken.
Walt R. Vian
In der Dezember-Ausgabe von Filmbulletin findet sich der Reprint eines Essays von Fritz Hirzel über die frühen Hollywood-Jahre der Marx Brothers.