Das erste Jahrhundert des Films: 1985
In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2015 sind Filme von 1915, 1925, 1935 usw. zu sehen. Vor einzelnen Filmen zeigen wir Schweizer Filmwochenschauen des betreffenden Jahres.
Die Zeit – Vergangenheit, Zukunft und dabei auf eine Art immer die Gegenwart – steht im Zentrum der Filmauswahl des Jahres 1985. Mit seinem Monumentalwerk Shoah schafft es Claude Lanzmann, dem Schrecken und den Dimensionen des Holocausts im Zweiten Weltkrieg so nahezukommen, wie es vielleicht nur möglich ist. Indem er die Aussagen der Opfer und Täter mit Bildern aus der Gegenwart koppelt, weist er sie als Erinnerungen, als Blick auf die Vergangenheit aus, die bis ins Heute nachwirken, und gibt der kalten, unzureichenden Objektivität von Zahlen und Fakten ihr tragisches Ausmass. In Elem Klimows letztem und eindrücklichstem Werk, Komm und sieh werden die Gräuel des Krieges durch die Augen des 14-jährigen Fljora betrachtet. Wenn er am Ende auf ein Porträt Hitlers schiesst, läuft die Zeit rückwärts und das Medium Film wird als Zeitmaschine ausgewiesen, mit seinen Möglichkeiten und Grenzen. Diese Grenzen scheint Robert Zemeckis’ Back to the Future hinter sich zu lassen, wenn die Zeit zum relativen Faktor gerät. Der kommerziell erfolgreichste Film jenes Jahres spielt zwischen Vergangenheit und Gegenwart um die Existenz seines eigenen Helden. Durch zwei Fortsetzungen noch verstärkt, wurden Marty McFly und seine Zeitmaschine damit zu festen Versatzstücken der Populärkultur. Terry Gilliams orwellsche Fantasie Brazil wiederum funktioniert als Paralleluniversum, als verfremdetes, überspitztes Spiegelbild der achziger Jahre, das in die Zukunft und damit in unsere Gegenwart weist. La historia oficial und Le thé au harem d’Archimède setzen sich dagegen nüchtern mit der Gegenwart des Jahres 1985 auseinander. Nur zwei Jahre nach Ende der argentinischen Militärdiktatur richtet Luis Puenzo kompromisslos den Blick auf ein dunkles, bis heute nicht abgeschlossenes Kapitel des eigenen Landes: das Verschwinden regimefeindlicher Bürger und die Zwangsadoption ihrer Kinder. Demgegenüber gelingt es Mehdi Charef, mit humorvollem Unterton die Sorgen zweier Jugendlicher und ihr Leben in den Pariser Banlieues aufzugreifen. Soziale Probleme stehen dabei im Fokus, die ebenfalls vom Jahr 1985 in die Gegenwart weisen. Auch Fredi M. Murers Höhenfeuer ist zwar in seiner 1980er-Jahre-Gegenwart angesiedelt, scheint aber in der Abgeschiedenheit seiner Bergbauernwelt von einer längst vergangenen, archaischen Zeit zu berichten.
Marius Kuhn