Das erste Jahrhundert des Films: 1995
In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2015 sind Filme von 1915, 1925, 1935 usw. zu sehen.
In der Selektion des Jahres 1995 drängt sich der urbane Lebensraum in den Vordergrund und ihre Darstellung im Kino verdichtet sich über die Filme hinaus zum facettenreichen Bild einer nun bereits zwanzig Jahre zurückliegenden Zeit. Jafar Panahis Erstling Der weisse Ballon beobachtet das Leben in der Stadt Teheran durch die Augen der siebenjährigen Razieh und erinnert dabei nicht nur in seiner humanistischen Haltung an Vittorio De Sicas Ladri di biciclette. Im hektischen Betrieb der sich wandelnden Millionenmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt gerät der Fahrradklau in Cyclo wiederum zum Ausgangspunkt für eine blutige Parabel, die Genesis eines Mörders. Die schonungslose Brutalität, mit der Tran Anh Hung das Leben in der vietnamesischen Hauptstadt zeichnet, prägt auch David Finchers stilbildenden Neo-Noir Seven, das nihilistische Bild einer namenlosen amerikanischen Grossstadt und ihrer Bewohner. Michael Manns epischer Thriller Heat lässt die Düsternis der verregneten Strassen dem unterkühlten Lichtermeer des modernen Los Angeles weichen und nimmt damit den Look von Filmen wie The Dark Knight vorweg. Die anonymen Häuserschluchten der Metropole sind der würdige Schauplatz einer Premiere, wenn sich die Schauspiellegenden Al Pacino und Robert De Niro erstmals duellieren. Im ganz in Schwarzweiss gehaltenen La haine wird die Schilderung des Lebens in den Pariser Banlieues zur wütenden Anklage gegen heute immer noch gärende soziale Missstände. Einen Kontrapunkt setzen Nicolas Humbert und Werner Penzel, denen es mit Middle of the Moment gelingt, fernab grosser Ballungsräume das scheinbar zeitentrückte Leben der Tuareg auf die Leinwand zu bannen.
Marius Kuhn