Das erste Jahrhundert des Films: 1966
1966/1976 sind Jahrgänge der Grenzüberschreitungen: Michelangelo Antonionis freizügiger Thriller Blow-up und die kompromisslose Theateradaptation Who’s Afraid of Virginia Woolf? sorgen 1966 für Aufruhr und die Einführung einer Altersgrenze durch die Motion Picture Association of America. Der antikolonialistische Kriegsfilm La battaglia di Algeri veranlasst Frankreich dazu, die Filmfestspiele in Venedig zu boykottieren, wo das Werk am Ende den Hauptpreis erhält. In Sergio Corbuccis Django werden die Versatzstücke des Westerns und die Gewalt, mit denen bereits Sergio Leone spielte, ins Exzessive übersteigert. Bourvil und Louis de Funès beweisen in La grande vadrouille, dass Krieg komisch sein kann, während Ingmar Bergman mit Persona den Zuschauer psychisch fordert und Alexander Kluges Abschied von Gestern endgültig «Papas Kino» begräbt.
20 Jahre nach The Searchers schickt Martin Scorsese 1976 Travis Bickle in Taxi Driver ebenfalls auf einen Rachefeldzug, der in einem Blutbad endet. Gleichzeitig lässt Nagisa Oshimas Im Reich der Sinne Antonionis Sex-Darstellungen bereits eine Dekade später harmlos erscheinen und wird in mehreren Ländern verboten. Bernardo Bertolucci stemmt mit Novecento ein Mammutprojekt, das die italienische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zwei Teilen und über fünf Stunden Laufzeit erzählt. Auf die unmittelbare Gegenwart nach dem Ende des Franco-Regimes blickt Carlos Saura in Cría cuervos, während sich Alain Tanner in Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 acht Utopisten widmet. Den damaligen Medienbetrieb kritisierend, hat Sidney Lumets Network bis heute nichts von seiner Aktualität verloren. Schien es damals noch übertrieben, ist der Wutschrei «I’m as mad as hell, and I’m not going to take this anymore» des Fernsehmoderators Howard Beale erschreckend passend für die wachsende Zahl amerikanischer Protestwähler.
Marius Kuhn