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Das südkoreanische Filmwunder

Unterlaufene Erwartungen

Das zeitgenössische Kino Südkoreas war in den letzten Jahren im Filmpodium schon mehr als einmal zu Gast. Dennoch gibt es in diesem höchst lebendigen Filmschaffen auch für uns immer noch Neues zu entdecken. Umso besser, dass sich ein Kenner wie Fred van der Kooij an diesem Thema festgebissen hat. Dank des Internets hat er sich mit dem südkoreanischen Kino der letzten knapp zwanzig Jahre vertraut gemacht und eine exquisite Filmauswahl für uns vom Web auf die Leinwand geholt. Einer der erfreulichsten Aspekte, den das Internet für mich bereithält, ist das Surfen auf jenen Seiten, von denen regelmässig die neusten Filme heruntergeladen werden können. Dies erlaubt mir einen grossen Überblick über den internationalen Film und hält so manche Überraschung bereit. So füllten sich etwa meine Harddisks zunächst unbemerkt mit Filmen aus Südkorea. Bald aber wurde mir klar, dass dieses Land in wenigen Jahren zu der wohl innovativsten Kinonation der Welt geworden ist. Sogar im Mainstream-Kino, sonst für künstlerische Waghalsigkeiten nicht gerade bekannt, entstehen dort immer wieder Filme, die durch Originalität bestechen. Und während in anderen Ländern das anspruchsvolle Kino zunehmend als Mauerblümchen dahinvegetiert, ist die Palette in dieser ostasiatischen Nation ausgesprochen breit. Gewiss dominieren auch hier die formalistischen Gebetsmühlen des Genre-Kinos. Dennoch überzeugen mehr als nur eine Handvoll Publikumsfilme aus Seoul durch ungewohnte Sichtweisen. Sogar an den anderswo in Stein gemeisselten Konventionen des angeblich so filmischen Erzählens wird auch in dieser Sparte immer wieder gerüttelt, und es tauchen darüber hinaus, etwa im Konflikt mit Nordkorea, sogar politisch völlig unerwartete Positionen auf, die die auch in unseren Medien übliche Verhetzung von Nordkorea überraschend unterwandern.

Andere Blickwinkel und schwarzer Humor
Wenn ich versuche, das südkoreanische Kino zu charakterisieren, kommen mir dabei zwei immer wieder ins Auge springende Qualitäten in den Sinn. Da ist zunächst die Wahl eines oft höchst ungewöhnlichen Blickwinkels, von dem aus das (durchaus auch mal alltägliche) Geschehen beobachtet wird. Ein derartiges Vorgehen unterspült die Erwartungen des Zuschauers. Und das kann mitunter geradezu verschlagene Formen annehmen. So etwa in Aju teukbyeolhan sonnim (2006) von Lee Yoon-ki, einem Film, der im Westen unter dem Titel Ad-Lib Night lief. Darin überreden zwei wildfremde Männer eine junge Frau zur Mitfahrt aufs Land mit derart hanebüchenen Argumenten, dass jedem im Saal klar wird, dass die Herren ganz anderes im Sinne haben. Doch erstaunt müssen wir feststellen, dass es genau die kuriosen Rituale eines Familiendramas sind, die sich darauf vor unseren Augen abzuspielen beginnen, und dass der Film dabei immer mehr an Glaubwürdigkeit, ja gar an emotionaler Tiefe gewinnt.
Ein Schritt weiter und wir stecken mitten in einer von den koreanischen Filmemachern besonders geliebten Haltung, jener des schwarzen Humors. Eine dafür geeichte Sensibilität braucht bekanntlich zwei Elemente: Fettnäpfchen zum ordentlichen Hineintreten und eine ausreichende Lockerung des guten Geschmacks. In einem Land, in dem einerseits ein vor wenigen Jahrzehnten tobender Bürgerkrieg mit über zwei Millionen Toten lange erfolgreich verdrängt wurde, andererseits faschistische Machthaber, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden, sich lange Zeit die Klinke des Präsidentenpalastes in die Hand gaben, sind allein schon die Fettnäpfchen zur Grösse von öffentlichen Badeanstalten angewachsen. Nun gibt es seit wenigen Jahren in Südkorea, nach dem Vorbild Südafrikas, wo nach dem Zusammenbruch des Apartheid-Regimes bekanntlich eine Wahrheitskommission die Verbrechen jener Zeit in öffentlichen Veranstaltungen aufzuarbeiten versuchte, ähnliche Zusammenkünfte, wo Kriegsverbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen der jüngeren Vergangenheit aufgearbeitet werden. Immer wieder ist es in Folge davon zur Freilegung von Massengräbern gekommen. A Good Lawyer’s Wife (Baramnan Gajok; Im Sang-soo, 2003) beginnt mit einer solch schrecklichen Entdeckung. Aber dieser Film ist als erotische Komödie angelegt, wo nach den Regeln des Genres derartige politische Hämmer nie und niemals geschwungen werden dürfen. Und tatsächlich: Kaum sind die Leichen freigelegt und der erste Augenzeuge vor Schmerz zusammengebrochen, rollt der Protagonist des Films bereits mit einem offensichtlich angetrunkenen Polizisten im Grab zwischen den Schädeln herum, als befänden wir uns in irgendeinem derben Schwank. Und hätte der Regisseur nicht in Filmen wie Der letzte Knall des Präsidenten (Geuddae geusaramdeul; 2005) und The Housemaid (Hanyo; 2010) höchst kritisch zu den Zuständen in seinem Land Stellung genommen, müsste man sich ernsthaft fragen, ob die Szene im Massengrab nicht einer glatten Verhöhnung gleichkommt. Aber jener pechschwarze Humor, den die Koreaner lieben (darin sind sie den Holländern übrigens ziemlich ähnlich), ist nun einmal ohne Anstandsverletzung nicht zu haben. Und so sitzt man immer wieder im Kino dieses einen so freundlich anlächelnden Volkes und denkt: Wie bitte? Das kann doch gar nicht sein, was ich da gerade sehe!

Grosse Titel – kaum bekannte Namen
Wer grosse Filmnationen in ihrer Blütezeit Revue passieren lässt, stösst zwangsläufig auf grosse Namen. Da steht Eisenstein für die Wucht des frühen sowjetischen Kinos, Godard für das Fest der Nouvelle Vague und Antonioni für die Geometrisierung der Italianità. Nicht so in Südkorea. Auch wenn dessen Filmschaffen seit den neunziger Jahren auffallend reich geworden ist, bleibt es bis heute ohne wirklich herausragende Regisseure. Darin ähnelt es dem französischen Kino der zwanziger Jahre, das ebenfalls voller Meisterwerke steckt, aber mit Ausnahme von Abel Gance, dessen Œuvre jedoch voller Abstürze ist, ohne geniale Lichtgestalten blieb. Natürlich gibt es auch in Südkorea Namen, die bekannter sind als andere. Lee Chang-dong und Park Chan-wook sind international anerkannt, aber wer die erstaunliche Qualität dieser Kinolandschaft benennen will, wird viele einzelne Filme anführen und kaum den Namen eines Regisseurs. Nehmen wir ein Beispiel wie Kim Ki-duk, dem das Filmfestival von Venedig sogar mal einen Goldenen Löwen zugesprochen hat. Ich halte seine Filme, ehrlich gesagt, für grauenhaft und gebe Ihnen hiermit schriftlich, dass ich mir keinen weiteren mehr anschauen werde – mit Ausnahme allerdings von Bin-jip (internationaler Titel: 3-Iron; 2004), der alles vereint, was das südkoreanische Kino gross macht: eine bis zum Schwebezustand gelockerte Narration und einen Grundeinfall, der derart originell ist, dass er bei den hiesigen Filmkommissionen einen schweren Stand gehabt hätte.
Wie dünn mitunter das Eis ist, auf dem das koreanische Kinowunder seine Pirouetten dreht, zeigt das Beispiel von Jung Sung-il, dessen Film Cafe noir (Kape neuwareu; 2009) einen der Höhepunkte unserer Retrospektive bildet. Auf der quasi offiziellen Bestenliste des koreanischen Films erscheint er nicht. Und auch der internationale Erfolg hielt sich sehr im Rahmen, sodass der Regisseur nach diesem erstaunlichen Erstlingswerk wieder zu seinem angestammten Beruf als Filmkritiker zurückkehren musste.
Aber ich möchte den Teufel nicht voreilig an die Wand malen. Lasst uns darum das südkoreanische Filmwunder, dieses wie aus dem Nichts aufgestiegene filmische Atlantis, feiern, solange es noch existiert.
Fred van der Kooij