Grenzgänger – Grenzenlos: Asien und Europa
Bis hierher und weiter
Die Reihe «Grenzgänger – Grenzenlos», die in Zusammenarbeit mit dem interdisziplinären Forschungsschwerpunkt der Universität Zürich entstanden ist, zeigt ein breites Spektrum von Spiel- und Dokumentarfilmen aus Asien und Europa. Im Zentrum stehen die Grenzen zwischen diesen Kulturräumen und die Begegnungen, Fantasien und Konflikte, die Grenzgängerinnen und Grenzgänger erleben.
Wie die jüngste Zeitgeschichte zeigt, sind Grenzen wieder ein Schlüsselthema geworden. Weltweit bestehen vielfältige Spannungsfelder zwischen globaler Vernetzung, regionalen Beziehungen und Bündnissen und einem wieder erstarkenden Nationalismus.
Die Filme dieser Reihe handeln alle vom Umgang mit Grenzen. Die geopolitischen Grenzen zwischen Asien und Europa sowie innerhalb der beiden Kontinente wirken ambivalent: Sie schränken ein, schützen, wecken Freiheitsträume, können ein Gefängnis bedeuten oder durchlässig sein. Die Hauptfiguren der Filme sind allesamt in der einen oder anderen Weise Grenzgänger: Sie kommen auf ihren Reisen – seien sie real oder imaginiert – auch an ihre kulturellen, sprachlichen, physischen oder psychischen Grenzen – und manchmal gar darüber hinaus, in neue, unbekannte Territorien.
Blicke über den Tellerrand
Die Begegnungen, die Grenzgänger machen, lassen sie Gewohntes hinterfragen und ihre Herkunft neu sehen, je nachdem als Bestätigung oder als Verunsicherung der eigenen Identität. Where Are You Going (Yang Zhengfan, China/Hongkong 2016) zeigt die eingegrenzte Sicht aus einem fahrenden Taxi auf das urbane Hongkong. Die Frage des Taxifahrers nach der Destination seiner Fahrgäste enthüllt nicht nur individuelle Lebenswege, sondern wird auch zur Erkundigung nach der aktuellen politischen und kulturellen Entwicklung der Stadt. In We Went to Wonderland (GB 2008) dokumentiert die Filmemacherin Guo Xiaolu auf intime Weise die Begegnung mit ihren Eltern. Diese verlassen erstmals ihre Heimat China, um die Tochter in deren Wahlheimat London zu besuchen. Durch die Augen des Paars gesehen, wird London zum ersten Auslöser philosophischer Reflexionen über die Wahrnehmung des Fremden. Auch My Beautiful Laundrette (Stephen Frears, GB 1985) zeigt England mit einem Einwandererblick: Drehbuchautor Hanif Kureishi ergänzt seine interkulturelle schwule Liebesgeschichte mit ironischen Betrachtungen zur Ära Thatcher. Demgegenüber schildert Kabhi Khushi Kabhie Gham ... (Karan Johar, Indien 2001) das Leben in der Diaspora zwar als Ausbruch aus engen Traditionsgrenzen, aber geprägt von Sehnsucht nach Indien und von der Abgeschnittenheit von der (Gross-)Familie. In den Augen einer Belgierin bleiben die Regeln der japanischen Arbeitskultur in Stupeur et tremblements (Frankreich/Japan 2003) bis zum Schluss undurchsichtig; ihr Karriereabstieg ist unaufhaltsam, jedoch von einer eigentümlichen masochistischen Belustigung begleitet. Einen positiven Gegenentwurf dazu zeigt Au sud des nuages (Jean-François Amiguet, Schweiz/Frankreich 2003): Für einen wortkargen Bauern aus dem Wallis führt eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn zur Versöhnung mit sich selbst.
Wunsch- und Trugbilder
Manchmal findet die Begegnung mit dem Fremden bloss in der Fantasie statt. Wie klaffen Vorstellungen und Realität auseinander, und welche Rückschlüsse auf den Träumer lassen die Bilder, die er sich vom andern macht, zu? Im Kinderfilm Bekas (Karzan Kader, Schweden/Finnland/Irak 2012) machen sich zwei kurdische Jungen zur Grenze auf; ihr Traum ist es, in einem Amerika zu leben, das sie nur aus dem Film Superman kennen. Gleich zwei Filme der Reihe verweisen im Titel auf die Thematik der Zeitlichkeit: In What’s the Time in Your World? (Safi Yazdanian, Iran 2014) reist eine Iranerin nach zwanzig Jahren in Frankreich zurück in ihren Heimatort. Die Begegnungen, die sie mit Bekannten aus ihrem früheren Leben macht, zeigen ihr brüchiges Verhältnis zu ihrer Vergangenheit auf; der Film lässt durch seine fragmentierende Erzählweise die Grenzen der Erinnerung und der Zugehörigkeit nachvollziehbar werden. What Time Is It There? (Tsai Ming-liang, Taiwan/Frankreich 2001) schildert zwei parallele Leben in Taipeh und Paris, die sich zufällig verknüpfen. Die Hauptfiguren driften in Gedanken zwischen den beiden Orten und Zeitzonen; der Film wird zur Reflexion über Zeitlichkeit und Ortlosigkeit. Die philippinische Komödie The Woman in the Septic Tank (Marlon Rivera, 2011) bewegt sich auf einer filmischen Metaebene: Drei Filmemacher spielen ein Drehbuch in drei verschiedenen stilistischen Varianten durch, um den Vorstellungen des internationalen Festivalpublikums am besten zu entsprechen. Chris Markers wegweisender Filmessay Sans soleil (Frankreich 1983) geht der Thematik des Erinnerns und des Bildermachens nach, mit einer weltumspannenden Perspektive, die Grenzen zwischen Ländern, ja Kontinenten, transzendiert.
Unüberbrückbare Differenzen
Wo Verständnis und Fantasie versagen, entstehen Konflikte, die aber nicht immer zu Mord und Totschlag führen, sondern mitunter Komik erzeugen können. Die Satire Win Win (Claudio Tonetti, Schweiz/Belgien 2013) ironisiert die kulturellen Missverständnisse, die während einer chinesischen Miss-Wahl im Schweizer Jura entstehen, auf liebevoll-harmlose Weise. The Land of the Enlightened (Belgien 2016) zeigt die Auswirkungen der sowjetischen und US-amerikanischen Besetzungen auf eine Gruppe von Kindern in den Bergen Afghanistans, wobei Pieter-Jan De Pues Film entlang der schmalen, oft unklaren Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion balanciert. In Gegen die Wand (Deutschland/Türkei 2004) lässt Fatih Akin ein Paar in Berlin sich erst nach der Zweckheirat ineinander verlieben, dann aber umso heftiger. Die Liebe wirkt dabei als Katalysator für den Ausbruch aus der türkischen Herkunft der Figuren und spiegelt die Haltlosigkeit des Lebens in der Fremde. Theeb (Naji Abu Nowar, Jordanien 2014) schildert, wie während des Ersten Weltkriegs ein Beduinenjunge einen englischen Soldaten durch die Wüste der Arabischen Halbinsel führen muss. Ihre Reise lässt den Jungen die Schwelle zum Erwachsenwerden übertreten. Nagisa Oshima inszeniert in Merry Christmas, Mr. Lawrence (GB/Japan 1983) die Spannungen zwischen den britischen Insassen und den japanischen Aufsehern eines Gefangenenlagers im Zweiten Weltkrieg als sadomasochistisches Machtspiel. Die zahllosen Zwischentöne einer Migrationsgeschichte schliesslich zeigt ausgerechnet ein Schwarzweissfilm: Die gebürtige Iranerin Marjane Satrapi schildert im Animationsfilm Persepolis (Frankreich/USA 2007), welche Umwälzungen ihr Heimatland während ihrer Kindheit durchlief und wie sie als Halbwüchsige ihren Weg nach Europa fand.
Natalie Boehler
Natalie Boehler, Filmwissenschaftlerin, hat im Rahmen des UFSP «Asien und Europa» zu Nationalismus im zeitgenössischen Film Thailands promoviert.