Christine Vachons Killer Films
Das Pink Apple Festival 2018 verleiht seinen Festival Award für Verdienste um das schwullesbische Filmschaffen der New Yorker Produzentin Christine Vachon. Seit rund 30 Jahren bringt sie ebenso eigenwillige wie herausragende Independent-Filme hervor, darunter viele, die LGBT-Geschichte geschrieben haben. Das Filmpodium widmet Vachon eine Retrospektive, die von ihrem ersten Langfilm Poison über Publikumserfolge wie One Hour Photo und Carol bis zu Premieren neuer Werke reicht.
Fragt man Christine Vachon, wie sie ihre Funktion als Produzentin definiere, spricht sie zuallererst von der Vorstellungswelt des Autors, der Autorin: Deren künstlerische Vision umzusetzen erachtet sie als ihre vordringliche Aufgabe. Entsprechend beruht für sie das Verhältnis zwischen Regie und Produktion in erster Linie auf Vertrauen. Ist sie für ein Projekt «gewonnen», wird sie das angemessene Budget mit dem richtigen Cast zusammenstellen, um daraus einen erfolgreichen Film zu machen. Wobei erfolgreich vor allem in ihren Anfangsjahren bedeutete, dass ein Film die Investitionen einspielte und am Schluss Geld übrig blieb für ein nächstes Projekt. Damit wurde sie nicht reich, auch nicht, als ihre Titel zu Kassenschlagern mutierten wie etwa ihr erfolgreichster Film One Hour Photo (2002), doch ihr Line-up ist beeindruckend: angefangen bei Titeln mit geringen Budgets etwa für den Lesbenklassiker Go Fish (1994) mit 15 000 Dollar oder den skandalträchtigen Poison (1991) mit 250 000 Dollar bis zu zweistelligen Millionensummen für I’m Not There (2007) oder Carol (2015).
Von Beginn weg engagierte Vachon sich für ein Autorenkino mit Ecken und Kanten, für Themen, die andere nur mit spitzen Fingern anfassen – gerade wenn es um schwul, lesbisch oder trans geht –, oder für Projekte, die als unverfilmbar galten: ausgefallene Biopics wie I Shot Andy Warhol (1996) über Valerie Solanas oder I’m Not There über Bob Dylan, Horrorkomödien wie Office Killer (1997) von Cindy Sherman, Epochenporträts wie Velvet Goldmine (1998) über den Glam Rock oder Kill Your Darlings (2013) über die Beat Generation, Studien über die Abgründe eines mittelständischen Amerika wie Happiness (1998), aber auch kühne Literaturverfilmungen wie Infamous (2006) nach George Plimptons Buch über Truman Capote oder Carol nach Patricia Highsmith. Seit ihrem Debüt schaffen es ihre Filme an die renommiertesten Festivals der Welt, ganz abgesehen von den zahlreichen Oscars und anderen Auszeichnungen, die sie errungen haben.
Der Sprung vom Wolkenkratzer
1962 wurde Christine Vachon als Tochter einer Französin und des amerikanischen Fotografen John Vachon in New York geboren, wo sie bis heute mit ihrer Lebenspartnerin und der gemeinsamen Tochter lebt. Bei ihrem Kunststudium lernte sie Todd Haynes kennen und gründete mit ihm – nachdem beide erfolgreiche Kurzfilme realisiert hatten – ihre erste Produktionsfirma Apparatus. In der Folge setzte sie sich in Paris mit dem Strukturalismus und der Nouvelle Vague auseinander, kehrte nach New York zurück und verdingte sich als «Mädchen für alles» auf verschiedenen Filmsets: Von der Pike auf wollte sie lernen, wie ein Film entsteht und eine Crew funktioniert. Dass sie sämtliche Bereiche aus dem Effeff kennt, minutiös plant und aus einer riesigen Erfahrung schöpfen kann, das erfährt man aus den beiden Büchern, die die wirblige Produzentin auch noch zu schreiben Zeit fand: «Shooting to Kill» (1998) und «A Killer Life» (2007). Darin erzählt sie von ihrem persönlichen Werdegang, aber auch anekdotenreich von ihrem beruflichen Alltag. Sie listet umfangreiche Budgets auf, von den Ausgaben für Regie und Besetzung über Set Design, Kamera und Musik bis zu den Kosten für die Crew-T-Shirts, Transporte und Werbeplakate. Sie weiss, wie viele Drehbuchkopien man braucht, dass Location Manager keine Lunch-Gutscheine bekommen oder Kinder während des Drehs Schulunterricht erhalten müssen. Lehrreich ist das nicht nur für angehende Produzentinnen und Produzenten, sondern auch für Filminteressierte, die einen praxisbezogenen Blick in die komplexe Maschinerie von kleinen und grossen Filmproduktionen werfen möchten. Liest man Vachons «Tagebuch»-Einträge vom Set, wird klar, dass Produzentinnen und Produzenten sich zwar wohl ums Geld kümmern, aber vor allem um Menschen – nebst Regieführenden und Stars um die Crew – und um das einvernehmliche Zusammenarbeiten in jenen Momenten, in denen alles stimmen muss: das Make-up, die Kostüme, das Licht, der Dialog, der Ton, die Stimmung, die Atmosphäre, kurz alles, was die Intensität eines Films ausmacht.
«Um Independent-Filme zu produzieren, muss man bereit sein, von Wolkenkratzern zu springen – im Wissen, dass die Landung hart sein kann», meint Christine Vachon. Ein Glück, dass bereits ihr erster Film, der von Jean Genet inspirierte Poison von Todd Haynes, eine unerwartet weiche Landung erfuhr, und das, obwohl er alles andere als gefällig ist mit seinem Genremix, den Anspielungen auf die Aids-Epidemie, der schwulen Gefängnisromanze. In Sundance ausgezeichnet, profitierte der Film von einem Eclat: Ein Pfarrer der antipornografischen Liga schrieb einen warnenden Brief an jedes einzelne Mitglied in Senat und Repräsentantenhaus. Das Resultat war eine rekordhohe Zahl von Eintritten am ersten Weekend und das Wissen darum, dass es manchmal gut ist, nicht zu wissen, was man tut. «Sonst wäre der Film wohl gar nicht erst entstanden», schreibt Vachon.
Queer Cinema und Killer Films
Poison war aber nicht nur das Fundament ihrer erfolgreichen Produzentinnentätigkeit, er war auch der Funke, der das Feuer des New Queer Cinema entfachte: Filme von LGBT-Regisseurinnen und Regisseure, die aus erster Hand über queere Lebensrealitäten erzählten. Die von Vachon produzierten Titel bilden dessen Essenz: Post Cards from America (1994) von Steve McLean über einen an Aids verstorbenen Performance-Künstler etwa, der kleine, feine Go Fish (1994) von Rose Troche, der authentische Einblicke in die Chicagoer Lesbenszene gewährt, I Shot Andy Warhol über das Attentat der Radikalfeministin Valerie Solanas auf den Erfinder der Pop-Art bis hin zu dem auf Tatsachen beruhenden Trans-Drama Boys Don’t Cry (1999), der zu Oscar-Ehren kam.
1995 gründete Christine Vachon mit ihrer Geschäftspartnerin Pamela Koffler die Produktionsfirma Killer Films und begann, das inhaltliche Spektrum auszuweiten – etwa mit Kids (1995) von Larry Clark, einer Hommage an die Jugendkultur der Neunzigerjahre, dem provozierenden Happiness von Todd Solondz oder den starbestückten Filmen One Hour Photo mit Robin Williams, Far From Heaven (2002) mit Julianne Moore, I’m Not There oder Carol, beide mit Cate Blanchett.
Oft frage man sie, wie sie es schaffe, als Produzentin «relevant» zu bleiben in einer Filmindustrie, die sich ständig wandle, schreibt Vachon in «A Killer Life» und meint, ihre Strategie sei es, ein «bewegliches Ziel» zu bleiben – wach, politisch, engagiert. Ihr Spürsinn für eigensinnige Stoffe und «visionäre» Filmschaffende sind dabei ebenso wichtig wie ihr Einsatz für Projekte, die jenen Funken Magie versprühen, der «alles andere ausblendet». Das wissen all jene Cineastinnen und Autoren zu schätzen, die immer wieder mit ihr zusammenarbeiten – allen voran Todd Haynes, für den Vachon bis heute alle Filme produzierte –, aber auch Nachwuchsregisseurinnen wie jüngst Tali Shalom Ezer bei ihrem Erstling My Days of Mercy (2017), einer fein gesponnenen lesbischen Liebesgeschichte vor gesellschaftspolitischem Hintergrund, mit Ellen Page in der Hauptrolle.
Weitere sehenswerte Produktionen von Christine Vachon:
Beatriz at Dinner, Regie: Miguel Arteta (2017)
Salma Hayek als zugewanderte holistische Therapeutin, die bei einem Dinner John Lithgow als Trump-ähnlichem Unternehmer die Kappe wäscht.
The Notorious Bettie Page, Regie: Mary Harron (2005)
Gretchen Mol brilliert als das legendäre Pin-up-Girl Bettie Page, das in den 1950er-Jahren mit S/M-Fotos die Moralisten entsetzte.
Storytelling, Regie: Todd Solondz (2001)
Rabiate und selbstreflexive Auseinandersetzung mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion, mit Rassimus, Sexismus und Fantasien.
Velvet Goldmine, Regie: Todd Haynes (1998)
Hommage an die Glam-Rock-Ära und die Wechselbeziehung von David Bowie und Iggy Pop, mit Jonathan Rhys Meyers und Ewan McGregor.
Safe, Regie: Todd Haynes (1995)
Prophetische Vision einer Gesellschaft, die an der Moderne erkrankt ist, was sich in Allergien und Unverträglichkeiten manifestiert.
Stonewall, Regie: Nigel Finch (1995)
Dokudrama über den legendären, wegweisenden Schwulenaufstand gegen eine Polizeirazzia in einem New Yorker Szenelokal 1969.
Swoon, Regie: Tom Kalin (1992)
Schillerndes, beklemmendes Porträt des historischen schwulen Mörderpaars Leopold und Loeb, dessen Untat Hitchcock zu Rope inspirierte.
Doris Senn
Doris Senn ist Filmwissenschaftlerin und u. a. als Filmkritikerin tätig. Seit 2001 ist sie Co-Kuratorin und Co-Leiterin des schwullesbischen Filmfestivals Pink Apple.
Zusatzinformationen:
Das 21. Pink Apple Festival zeichnet Christine Vachon mit seinem Festival Award aus, den sie am Sonntag, dem 6. Mai persönlich entgegennehmen wird. Davor wird die Produzentin bei mehreren Vorstellungen im Filmpodium für Q&As zur Verfügung stehen, und am Samstag, dem 5. Mai gibt sie um 16.30 Uhr eine Master Class mit Marille Hahne (ZHdK).