Simone Signoret
Schön, stark und etwas verrucht – Simone Signoret hatte schon in jungen Jahren eine Ausstrahlung, die sie für Rollen im Halbweltmilieu zu prädestinieren schien. Erst allmählich vermochte sie sich von diesem Stereotyp zu befreien, nicht zuletzt mit Projekten, in denen sie ihr politisches Engagement einbrachte. Noch im Alter, dessen Spuren sie nie vertuschte, verkörperte sie unvergessliche Filmfiguren.
Eine wahre Idylle herrscht in der Eröffnungsszene von Casque d’or (1952): eine sonntägliche Bootspartie, ein Stimmungsbild wie aus alten Zeiten – Belle Époque. Wenn dann aber Simone Signoret auf der Leinwand erscheint, beginnt eine neue Zeitrechnung. Ihr selbstbewusstes Auftreten, ihr amüsierter Blick, ihre Chuzpe – sie ist keine, die sich lange herumkommandieren lässt; schon hat sie sich den Nächsten ausgeguckt und zum Tanz aufgefordert. So fängt eine grosse Liebe an, die zum Scheitern verurteilt ist: die «Hure mit Herz» und der Ex-Gauner, der sich als braver Handwerker bewähren will.
«Ein kleiner Mann und eine grosse Frau», schrieb François Truffaut noch Jahre später über das ungleiche Liebespaar Serge Reggiani und Simone Signoret, «ein kleiner, sehniger streunender Kater und eine schöne fleischfressende Pflanze». Misogyne Untertöne waren damals an der Tagesordnung, auch bei den jungen Wilden der Nouvelle Vague. Regisseur Jacques Becker hatte hingegen eine «elegische Abhandlung über sexuelle Gleichberechtigung» im Sinn, ein Novum im konservativen Nachkriegsfrankreich, das im Kino dem «schwarzen Realismus» huldigte und für Frauen lediglich Rollen als Prostituierte übrig hatte. Auch Simone Signoret hatte keine Wahl, aber ihr Charisma war stärker.
Dass Casque d’or ihr «schönster» Film gewesen sei, wissen wir spätestens seit Signorets Memoiren («La nostalgie n’est plus ce qu’elle était», dt.: «Ungeteilte Erinnerungen»): Hier konnte die Charakterschauspielerin endlich alle Register ziehen, und das kühn aufgetürmte Blondhaar, der «Goldhelm», setzte ihrer blendenden Schönheit die Krone auf. Zum Glück stand ihr der grosse «kleine Mann» zur Seite, der – zum Entsetzen der französischen Filmwelt – ein neues Männerbild aus dem Ärmel schüttelte: den «Anti-Macho». Zu modern für Kritik und Publikum, die sich noch lange Jahre für verschworene Männerbünde und virile Stars wie Lino Ventura, Paul Meurisse, Jean Gabin, Alain Delon begeistern liessen. Casque d’or, heute ein Klassiker, war nach vier Tagen aus den französischen Kinos verschwunden; im Ausland hingegen, in Rom, Berlin und London, überschlug man sich vor Begeisterung. Der British Film Academy Award, der englische Oscar, war Signorets erster internationaler Preis: die Eintrittskarte zur Weltkarriere.
Verführung und Erfahrung
Simone Signoret hat einmal gesagt, dass sie zu jenen Schauspielern gehöre, die «keine Methode» hätten, sondern aus ihrem Erfahrungsschatz schöpften. Da gab es Stoff zuhauf. Statt eines Jurastudiums brachen für die 1921 in Wiesbaden geborene Halbjüdin im besetzten Frankreich schwere Zeiten an. Der katholische Name ihrer Mutter half ihr bei der Suche nach Arbeit, um die Familie zu ernähren. Der Vater mit dem jüdisch-polnischen Familiennamen Kaminker verbrachte die Kriegsjahre im Londoner Exil. Das Pariser Café de Flore, damals Treffpunkt verarmter Linksintellektueller, wurde für Signoret zur neuen Heimat. Dort traf sie auf Gleichgesinnte wie den Filmemacher Yves Allégret, den sie später heiratete. Ihre erste Hauptrolle in seinem Film Dédée d’Anvers (1948) war ihr gleichsam auf den Leib geschrieben: eine französische Rita Hayworth in einem tiefschwarzen Film, der mit einem erbarmungslosen Showdown im Morgengrauen endet. Bis zu ihrem Oscar-Film Room at the Top (Jack Clayton, 1959) bestimmten schwarze Rollen und fatale Verhältnisse ihre Filmarbeit, aber alle beförderten nur ihren Starruhm. Erst nach ihrer Heirat mit Yves Montand 1951 trat sie stärker als politische Person an die Öffentlichkeit.
Für Thérèse Raquin (Marcel Carné, 1953) wurde Emile Zolas Roman so umgeschrieben, dass der Wandel von der züchtigen, duldsamen Krämersfrau zur kämpfenden Liebenden und Mordkomplizin Signorets sinnliche Qualitäten richtig ins Bild setzen konnte, sie jedoch nie als verwerfliche Gestalt erscheint. Selbst im Welterfolg Les diaboliques (Henri-Georges Clouzot, 1955) mit über drei Millionen Eintritten allein in Frankreich, in dem sie mit cooler Sonnenbrille, Etuikleid, schneidender Stimme und abgrundtiefer Boshaftigkeit als Femme fatale auftritt, scheint im Umgang mit ihrer Rivalin ein eher versöhnlicher, erotischer Unterton auf, wogegen das ehebrecherische Liebesverhältnis zugunsten der Horroreffekte in den Hintergrund tritt. Ganz anders die grosse Liebende im englischen Klassendrama Room at the Top, eine unglücklich verheiratete Frau mit zweifelhaftem Ruf, die sich in einen Aufsteiger aus der Arbeiterklasse verliebt. Es heisst, dass Regisseur Clayton im ganzen Land keine britische Aktrice aufspüren konnte, die in die Rolle der älteren, aber klugen und glamourösen Verführerin hätte schlüpfen können. Verführerischer war Simone Signoret tatsächlich nie: ihre erblühte Schönheit und Sinnlichkeit in Grossaufnahme, ihr hingebungsvoller Blick, ihr in jeder Faser sichtbares Begehren. Einmal mehr überzeugt die Schauspielerin mit einer Ausdruckskraft, die sie mit ihrem nuancierten minimalistischen Spiel hervorbringt: Jede Geste zählt, jeder Blick spricht Bände. Dialoge sind Zutat. Simone Signoret ist immer authentisch, versteckt nie ihr wahres Alter, auch hier nicht. Ende dreissig, das war damals ihr Lebensalter.
Mut zur Hässlichkeit
Simone Signoret war immer gross. Ihre Leinwandpräsenz liess auch im Alter nicht nach, als die strahlende Schönheit verblasste und ihre Figur fülliger wurde. Sie benutzte, zelebrierte geradezu ihren körperlichen Verfall bis zur Hässlichkeit. Sie drehte mehr Filme als je zuvor, spielte bedeutende Rollen und achtete vermehrt auf die politische Botschaft der Stoffe, die oft einen Bezug zu ihrem Leben hatten. Eine «Condesa», die Gewehre an die ausgebeuteten Landarbeiter verteilt und zur Rebellion aufruft: Die Romanverfilmung Ship of Fools (Stanley Kramer, 1965) nach dem Welterfolg von Katherine Anne Porter wirkt in ihrer episodischen Erzählweise zwar veraltet, nicht aber mit dem ungewöhnlichen Aussenseiterpaar Oskar Werner und Simone Signoret. Auch hier, wie in so gut wie jeder Rolle, spielt sie die Verlassene, die Verzichtende, die Verliererin, ohne jemals die Haltung aufzugeben. Sie stellte sich sogar einer Rolle wie La veuve Couderc (Pierre Granier-Deferre, 1971) an der Seite des wesentlich jüngeren Alain Delon, der ihr erst in der Sterbeszene, als von Kugeln durchlöcherter jüdischer Märtyrer, die Show einer immer noch sexuell aktiven Frau stehlen kann. Wenig beachtet wurde dagegen ihr kurzer Auftritt in L’aveu (Costa-Gavras, 1970) als Ehefrau des inhaftierten und beinahe zu Tode gefolterten tschechischen Politikers Artur London (Yves Montand), für Signoret wohl eher ein «Solidaritätsbeitrag» – die Rolle einer Frau, die sich öffentlich von ihrem Mann lossagt, hätte sie sonst kaum übernommen. Zu ihren umstrittenen Filmen gehört auch La vie devant soi (Moshé Mizrahi, 1977) mit einem Plot, der alle nur denkbaren melodramatischen Register zieht, mittendrin eine Matrone, ein Ungetüm von Frau, eine «alte Hure», die alle Verletzungen einer jüdischen Existenz im 20. Jahrhundert überlebt hat und doch wieder lächeln kann. Es ist der befremdliche Zauber einer Unverwüstlichen, die sich zuletzt in die Groteske gerettet hat.
Simone Signoret hat von Film zu Film immer wieder dem Tod ins Auge geschaut. Wie eine Heldin vor der Kamera gestorben ist sie jedoch nur in ihrer vielleicht bedeutendsten Rolle als Résistancekämpferin Mathilde in L’armée des ombres (Jean-Pierre Melville, 1969), Aug’ in Auge mit ihrem engsten Vertrauten, der zum Vollstrecker wird. Ein Gnadenschuss? Ihr angstvoller oder doch vor Ungläubigkeit, in völliger Überraschtheit sich weitender Blick aus grossen blauen Augen sagt etwas anderes.
Marli Feldvoss
Weitere sehenswerte Filme mit Simone Signoret:
Impasse des deux anges (Maurice Tourneur, 1948)
Manèges (Yves Allégret, 1949)
Gunman in the Streets (Frank Tuttle, 1950)
Thérèse Raquin (Marcel Carné, 1953)
La mort en ce jardin (Luis Buñuel, 1956)
Les mauvais coups (François Leterrier, 1961)
Compartiment tueurs (Costa-Gavras, 1965)
The Deadly Affair (Sidney Lumet, 1966)
La veuve Couderc (Pierre Granier-Deferre, 1971)
Le chat (Pierre Granier-Deferre, 1971)
Chère inconnue (Moshé Mizrahi, 1980)
Marli Feldvoss
Marli Feldvoss, Filmkritikerin und Publizistin aus Frankfurt am Main, schreibt seit über dreissig Jahren über Film, Literatur und Kulturereignisse, lange Jahre bei FAZ und NZZ, epd Film und Filmbulletin u. v. a., und arbeitet auch für Radio und Fernsehen.