Youssef Chahine
Nicht nur als Filmemacher, auch wegen seiner politischen und menschlichen Einstellung gilt Youssef Chahine (1926–2008) als einer der grossen Namen des ägyptischen Kinos. Sein Werk umfasst 37 Spiel- und fünf Kurzfilme; er erhielt dafür zahlreiche Preise, vom Tanit d'or am Carthage Film Festival bis zum Silbernen Bären in Berlin, und mehrere Auszeichnungen für sein Lebenswerk, darunter in Venedig und Cannes. Als anlässlich der Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen des ägyptischen Kinos eine Liste der 100 einflussreichsten Werke erstellt wurde, standen darauf sieben Filme von Youssef Chahine.
Youssef Chahine wurde am 25. Januar 1926 in Alexandria als Sohn eines katholischen Vaters aus dem Ostlibanon und einer Mutter griechischer Abstammung geboren. Das Abitur erwarb er am britischen Victoria College in Alexandria und zog dann in die USA, wo er am Pasadena Playhouse Schauspiel und Regie studierte, bis er 1948 nach Ägypten zurückkehrte und vorerst als Schauspieler in Erscheinung trat, ab 1950 auch als Regisseur.
Politisch und sozial engagiert
Über Youssef Chahine kann man nicht sprechen, ohne sich mit der politischen und sozialen Dimension seiner Filme und seiner Vision des Kinos auseinanderzusetzen. Von 1964 bis 1966 war er wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem politischen System gezwungen, ausserhalb Ägyptens zu arbeiten. Chahines Rückkehr in seine Heimat vermittelte schliesslich der Schriftsteller Abdul Rahman Al-Sharqawi, der Autor des Romans «Die Erde», den Chahine Ende der 60er-Jahre verfilmt hatte; der Film wurde damals verboten. In seinem Drama Der Spatz (1972) führte Chahine den Grund für die Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 auf die in den staatlichen Institutionen verbreitete Korruption zurück, was ebenfalls zu einem Verbot des Films führte. Chahine nahm dieses Schicksal in Kauf, indem er sich mit den Mächtigen anlegte, vor allem im Namen der Freiheit und der Glaubwürdigkeit der Kunst.
In Konflikt geriet Chahine auch mit dem Regime Hosni Mubaraks (1981–2011), als er sich dem politischen System ebenso wie den islamistischen Gruppen entgegenstellte, etwa mit seinem Film Der Auswanderer (1994), der sich mit der Geschichte des Propheten Jakob und seines Sohnes Josef auseinandersetzt. Chahines Engagement für bürgerliche Rechte, für Meinungsfreiheit, für Gerechtigkeit und Würde machte ihn besonders sensibel für das menschliche Leiden, für Klassenkonflikte und soziale Ungerechtigkeit, was sich auch in seiner filmischen Vision niederschlug: «Mir liegt an den Menschen, egal woher sie kommen» – so die berühmte Liedzeile am Anfang von Eine ägyptische Erzählung (1982). Soziale Ungerechtigkeit und Klassenkampf stehen auch im Mittelpunkt von Dunkle Wasser (1956), einem Drama um zwei Brüder: Der eine geniesst als legitimer Sohn alle Privilegien der Oberschicht, während dem illegitimen alle Privilegien versagt bleiben und er im Ausland schuften muss. Als die beiden Brüder um die Liebe desselben Mädchens buhlen, spitzt sich der Konflikt zu – wie zwischen Ober- und Unterschicht, so scheint Chahine anzudeuten, die sich Ägypten streitig machen.
Auch in Die Erde (1970) wird ein Klassenkonflikt dargestellt: Der Pascha und die Profiteure stehen den Bauern und deren Land gegenüber, durch das eine Strasse zum Palast gebaut werden soll. Für private Interessen werden geheime Allianzen auf Kosten des Gemeinwohls geschmiedet. Abu Swelam, der Protagonist, bleibt unbeugsam und stirbt; in der letzten Einstellung krallt er sich im Boden fest.
Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1976) scheint den libanesischen Bürgerkrieg vorauszuahnen, wenn sich in der letzten Szene die Familie gegenseitig umbringt. Derselbe prophetische Geist prägt auch den Film Chaos (2008), der die Januar-Revolution vorausgesagt hat. Hier erweist sich Chahine als Künstler, der imstande ist, in die Zukunft zu sehen, wenn er seiner Kunst treu bleibt.
Unverwechselbarer Stil
Nicht nur Engagement prägt Chahines Werk, sondern auch seine sehr persönliche filmische Handschrift. Die Gestaltung ist eines der wichtigsten Merkmale von Chahines Kino, das sich durch Dichte, Reife und Reichtum auszeichnet. Mit jeder Einstellung, jedem Kamerawinkel formuliert er einen politischen und sozialen Kommentar zum Thema des Films und passt sich diesem an: Während die Kamera in Die Erde als Beobachterin agiert, ist sie in seinen autobiografischen Filmen so flink und atemlos wie er selbst. Chahine eröffnete seine autobiografische Alexandria-Tetralogie 1979 mit Alexandria... warum? und markierte damit einen weiteren grossen Sprung in seiner Karriere, der ihm international Erfolg bescherte. Voller Mystik und intellektueller und emotionaler Freiheit vermittelte er seine Vision vom Kino – vor ihm hatte kein ägyptischer oder arabischer Filmemacher in diesem Stil gearbeitet.
In seinen Filmen experimentierte Chahine gern und schaffte damit oft eine Distanz zum Publikum. Das zeigte sich etwa bei Eine ägyptische Erzählung, dessen Erzählstil nicht nur von der Kritik angegriffen wurde, sondern auch das Publikum vor etliche Herausforderungen stellte – ein Vorwurf, der Chahine fast während seiner ganzen künstlerischen Laufbahn begleitete, doch er liess sich nicht beirren und blieb seinem Stil treu.
Chahine und die Frauen
Immer wieder kommen Frauen bei Youssef Chahine Schlüsselrollen zu. In Der Spatz steht die junge Bahiya für Ägypten. Sie beobachtet die Ereignisse aus der Ferne und scheint auf den ersten Blick nicht zu verstehen, was um sie herum vorgeht. Doch als sie gegen die Hinnahme der Niederlage appelliert und mit der berühmten Parole «Wir werden kämpfen!» zur Standhaftigkeit aufruft, überragt sie die Szene.
In Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1976) benutzte Youssef Chahine alle Figuren des Films als politische Symbole. Fatma, die unterdrückte Frau, wartet auf die Rückkehr ihres Verlobten aus dem Gefängnis, auf Ali, einen revolutionären jungen Träumer. Sehr geschickt hat Chahine hier auch die aufstrebende junge libanesische Sängerin Majida El Roumi für die Rolle von Tafida gewählt, der jungen Frau aus der Arbeiterfamilie: Sie liebt den jungen Ibrahim, der für den Westen schwärmt, versucht aber immer auch, ihn zu erziehen und ihm dabei zu helfen, seine Zukunft selbst zu gestalten.
Mit seiner Kunst, seiner Vision und seinen Ideen ist Youssef Chahine gegen den Strom geschwommen und hat sich allen Hürden zum Trotz in der Filmindustrie Ägyptens und in der arabischen Welt durchgesetzt. Er ist ein «Meister» im noblen Sinne des Wortes, ein wahrer Pionier: Er ist nicht nur wegen seines unverwechselbaren und einmaligen Stils ein künstlerisches Phänomen, sondern hat als Lehrer Talente gefördert und einer ganzen Generation von Filmschaffenden die Chance gegeben, sich selbst zu entdecken und innovativ zu sein.
Eine der wichtigsten Lektionen, die wir von Youssef Chahine lernen können, ist das Festhalten am künstlerischen Schaffen, allen Schwierigkeiten zum Trotz und bis zur Selbstausbeutung. Er war dafür bekannt, sich um alle Einzelheiten seiner Arbeit sehr sorgfältig zu kümmern und alle Arbeitsphasen zu betreuen. Vor dem eigentlichen Drehtag ging er immer zu den Schauplätzen, um den ganzen Tag über die Sonne zu beobachten – getreu der chinesischen Weisheit: «Bleib an deinem Platz, und plötzlich wird die Sonne dich überfluten.»
Der Meister Youssef Chahine hat uns am 27. Juli 2008 verlassen. Sein Leben lang hat er in unseren Herzen die Leidenschaft für das Kino entfacht, und so bleibt er mit seinen Geschichten und seinen Lehren im Gedächtnis von Generationen lebendig.
Aida Schläpfer Al Hassani
Aida Schläpfer Al Hassani ist Gründerin und Präsidentin des Vereins International Arab Film Festival Zurich (IAFFZ) und hat zusammen mit dem Filmpodium im letzten November die 4. Ausgabe des Arab Film Festival Zurich verantwortet. Während ihres Studiums am High Cinema Institute der Akademie der Künste in Kairo hat sich die in Bagdad geborene Regisseurin intensiv mit Youssef Chahine und seinem Werk auseinandergesetzt.
Aus dem Arabischen von Ola Adel.
Wir danken IAFFZ für die freundliche Unterstützung bei der Organisation dieser Retrospektive.