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Dürrenmatt im Kino

Kein anderer Schweizer Schriftsteller inspirierte mehr Cineasten als Friedrich Dürrenmatt, der im Januar 100 Jahre alt geworden wäre. Seine Stoffe wurden auf der ganzen Welt adaptiert, weil sie sich um universelle Themen wie Gerechtigkeit, Glaube und Rache drehten, aber viel Spielraum für eigenwillige Umsetzungen liessen.
Mit Portrait eines Planeten (1984) und Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte (2015) zeigen wir ergänzend zwei Dokumentarfilme, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf den legendären Schweizer Autor und Maler Friedrich Dürrenmatt blicken, der am 14.12.1990 verstorben ist.
Jeder Bildungsbürger hat beim intelligenten Tischgespräch schon mal über die Frage disputiert, wer denn nun der grössere Schriftsteller sei: Dürrenmatt oder Frisch? Ich war von Haus aus ein Frischianer; zu Dürrenmatt bekehrt wurde ich durchs Kino. Es hat mir den wahren Rang des Berner Dichters gezeigt, wobei ich ein Schlüsselerlebnis hatte: 2001 besuchte ich das Festival von Cannes, wo Sean Penn seine Regiearbeit The Pledge vorstellte. Der Hollywoodstar stimmte ein Loblied auf Dürrenmatt an, ein «intelligenter Krimiautor». Ihm gefiel der Pessimismus von Dürrenmatts Roman «Das Versprechen», der ihn zur Verfilmung gereizt habe, weil er einen «starken Rahmen» vorgegeben, aber genügend Spielraum offengelassen habe, um eigene Elemente einzufügen.
Und das ist denn auch ein Grund, warum Dürrenmatt-Verfilmungen viel stärker sind als jene von Frisch-Vorlagen: weil seine Stoffe grundsätzlicher und weniger zeitgebunden sind und daher immer wieder neue Aktualität erlangen können. Weil die Figuren immer auch Ideenträger sind, weniger ausgestattet mit emotionalen und lebensweltlichen Details als jene Frischs. Während die beiden Autoren literaturgeschichtlich auf Augenhöhe verhandelt werden, übertrumpft der Berner den Zürcher im Kino bei Weitem: Frisch wurde praktisch nur im deutschsprachigen Raum verfilmt, wobei es überhaupt nur einen nennenswerten Titel gibt, Homo Faber von Volker Schlöndorff. Dürrenmatt hingegen wurde zu allen Zeiten auf der ganzen Welt verfilmt: in Hollywood, in Asien, in Italien, in Ungarn und sogar in Senegal (Hyènes von Djibril Diop Mambéty).

Als Schreibsklave ungeeignet
Friedrich Dürrenmatt (1921−1990) selber, der zweimal mit einer Schauspielerin verheiratet war, liebte die siebte Kunst. Sein Schulweg in Bern führte an acht Kinos vorbei, und oft verbrachte er ganze Nachmittage im Bann der Leinwand, während ihn seine Eltern in der Schule wähnten. Das Bildmedium half dem Spross eines Landpfarrers auch dabei, sich vom protestantischen Elternhaus zu emanzipieren.
Doch als Schriftsteller haderte er zeitlebens mit der Verfilmung seiner Werke. 1957 schrieb er für die Praesens Film AG Es geschah am hellichten Tag. Produzent Lazar Wechsler hatte einen Krimi über Sexualverbrechen an Kindern bestellt, den er mit dem Etikett «Drehbuch von Friedrich Dürrenmatt» vermarkten wollte. Mehrmals musste der Dreh verschoben werden, weil Dürrenmatt, der seine Texte jeweils stark überarbeitete, weiter am Szenarium feilen wollte, doch Wechsler stand unter Zeitdruck. In seiner Autobiografie «Stoffe» schimpfte Dürrenmatt Wechsler einen mächtigen Sklavenhalter und hielt fest, dass er selber ungeeignet sei, sich als Schreibsklave zu verdingen: «Während des Arbeitens fiel mir erst ein, wie der Stoff eigentlich zu schreiben wäre (…). Verfilmt wurde ein Drehbuch, das auf meiner unfertigen Erzählung beruhte.»
Tatsächlich realisierte Regisseur Ladislao Vajda im Solde Wechslers einen moralischen Krimi, in dem Heinz Rühmann als Zürcher Kantonspolizist dem Täter auf die Schliche kommt und ihn seiner gerechten Strafe zufügt. Crime does not pay. Der klassische «Whodunit», der mit Schreckeffekten im Stil des deutschen Expressionismus arbeitet, wurde zum Kassenschlager, und Gert Fröbe wurde dank seiner furchteinflössenden Präsenz später im James-Bond-Abenteuer Goldfinger (1964) als Bösewicht gecastet.
Dürrenmatt machte keinen Hehl daraus, dass er von diesem Krimi enttäuscht war: «Man hätte ruhig frecher und burlesker sein dürfen. Rühmann ist mir zu bürgerlich.» Im Frust überarbeitete er seine Idee und schrieb den Roman «Das Versprechen». Mit dem Untertitel «Requiem auf den Kriminalroman» betonte er, dass er sich der gängigen Dramaturgie und Figurenpsychologie des Genres widersetzen wollte. Sein Roman endet ohne Moral, weil Dürrenmatt nicht an eine vom Menschen ausgehende Gerechtigkeit glaubte, auch nicht an jene von Gott (an den er nicht mehr glaubte), sondern an eine von aussen kommende. Der Mörder wird vom Schicksal ereilt und fällt einem Autounfall zum Opfer. Sean Penn hat den Dürrenmatt’schen Schluss beibehalten – eine mutige Wahl für eine Hollywoodproduktion. Er hat den Stoff von den Bündner Bergen nach Nevada verlegt und mit neuen politischen Zwischentönen aufgeladen: Aus dem Landstreicher, den der Stammtisch zum Opfer macht, wurde ein Indianer. Mit dieser tragischen Figur hält Penn dem amerikanischen Publikum einen Spiegel vor, in dem es den alltäglichen Rassismus der Rednecks erkennen sollte. Gut möglich, dass Dürrenmatt an diesem Film seine Freude gehabt hätte, wie seine Witwe Charlotte Kerr beteuerte. Sie hat mit Portrait eines Planeten (1984) einen vierstündigen Dokumentarfilm über den verschrobenen Schriftsteller gedreht, der sie darauf heiratete.
Keine Freude soll Dürrenmatt allerdings an Bernhard Wickis Verfilmung seines Welterfolgs «Der Besuch der alten Dame» von 1975 gehabt haben. Das lag weniger daran, dass Max Frisch darin einen Kurzauftritt hatte (Frisch lebte damals in Rom und schaute mehrmals bei den Dreharbeiten in Cinecittà vorbei). Zum einen schien Dürrenmatt die Hauptdarstellerin Ingrid Bergman mit 48 Jahren zu jung zu sein, um die alte Dame zu verkörpern, die sich an der Bevölkerung ihres Heimatdorfes rächt, die sie einst wegen ihrer unehelichen Schwangerschaft vertrieb. Zum anderen hatte Darryl F. Zanuck, der Produzent und Patron der 20th Century Fox, dem Stoff ein Quasi-Happy-End verpasst. Aus heutiger Sicht ist The Visit eine mit der grossen Kelle angerührte Prestigeproduktion, die in den Bann zu ziehen vermag.
Angetan war Dürrenmatt von Der Richter und sein Henker (1975) seines Freundes Maximilian Schell. Die beiden schrieben das Drehbuch gemeinsam, und so war sichergestellt, dass der bärbeissige Humor und die Ironie des Schriftstellers (der in einer Nebenrolle zu sehen ist) beibehalten wurden. Dieser Film mit John Voight in der Rolle des Polizisten Tschanz atmet geradezu die Atmosphäre von Dürrenmatts Krimis. Dazu gehört auch, dass – wie immer beim lukullischen Genussmenschen – die Wahrheit während eines Essens ans Licht kommt.

Eine Hassliebe
So ist das auch in La più bella serata della mia vita (1972), einer der interessantesten Dürrenmatt-Verfilmungen, weil hier nicht, wie so oft geschehen, die Vorlage bebildert wurde. Vielmehr diente Dürrenmatts «Die Panne» Ettore Scola als Inspiration für eine eigenwillige, groteske Komödie, die fast comichafte Züge aufweist. Alberto Sordi verkörpert einen Mailänder Geschäftsmann, der in Lugano Schwarzgeld waschen will, dann aber mit seinem Maserati einer Femme fatale nachstellt, die ihn zu einem Schloss in den Bergen führt, wo ihm ein Graf und dessen Tischgesellen den Prozess machen. Der Film des damals desillusionierten Kommunisten Scola, der das grassierende Konsumverhalten nach dem Wirtschaftswunder kritisierte, ist ein Abgesang auf Gier und Aufstiegsgelüste des Kleinbürgertums. Er ist geprägt vom Geist der Siebzigerjahre, als Softsexfilme das Publikum bei der Stange hielten und leicht bekleidete Schwedinnen wie Janette Ågren (die hier die textilarme Femme fatale gibt) der feuchte Traum vieler Autorenfilmer waren, die ihre aus heutiger Sicht vielleicht sexistisch anmutenden Frivolitäten als Beitrag zur sexuellen Befreiung deklarierten.
Dürrenmatt bewegte sich gerne in der Welt des Films, amtierte 1961 sogar als Jurypräsident in Locarno. Doch es schien stets eine Art Hassliebe zu sein, die ihn mit dem Kino verband. Es brachte ihm Anerkennung, mehrte seinen Weltruhm und hob ihn vom Konkurrenten Frisch ab. Gleichzeitig haderte er mit dem Kontrollverlust über die eigenen Stoffe. Am wichtigsten beim Film seien der Regisseur und der Kameramann als jene, die die Bilder fertigten, sagt er in Portrait eines Planeten.
Einmal gefragt, welches die Lieblingsverfilmung eines seiner Bücher sei, antwortete er mit der ihm eigenen bärbeissigen Ironie: die Fernsehaufzeichnung vom «Besuch der alten Dame» der Emmentaler Liebhaberbühne in Hasle-Rüegsau.
Christian Jungen

Christian Jungen ist Direktor des Zurich Film Festival und promovierter Filmhistoriker. Er arbeitete 25 Jahre lang als Filmkritiker.


100 Jahre Dürrenmatt 2021: Hier finden Sie die Veranstaltungen und Führungen der Schweizerischen Nationalbibliothek im Schweizerischen Literaturarchiv und im Centre Dürrenmatt Neuchâtel sowie ihrer Partnerinstitutionen: nb.admin.ch