Ulrike Ottingers Kino der Attraktionen
Für ihre Verdienste um schwullesbisches Filmschaffen erhält Ulrike Ottinger den Pink Apple Festival Award 2020. Pandemiehalber musste das Festival 2020 abgesagt werden. Nun wird Ulrike Ottinger am 14. und 15. Mai in Zürich sein, ihre Filme kommentieren und ihren Preis entgegennehmen. Als Premiere zu sehen ist ausserdem ihr jüngster Film: der autobiografische Film-Essay Paris Calligrammes.
Einen Film von Ulrike Ottinger zu sehen bedeutet immer, gleich mehrfach auf Reisen zu gehen: durch nah und fern, durch Geschichten in der Geschichte, durch die Zeit in der Zeit – oft sind ihre Werke überlang. Die Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, dem Skurrilen ist ein wiederkehrendes Element, ebenso Maskerade und Crossdressing. Die Darstellung des Begehrens wird oft mit Ritualen der Macht verknüpft, aber auch mit Ironie.
Ihre frühen Filme inszenieren ante litteram, was der Begriff «queer» in all seinen Facetten ab den 90er-Jahren umfassen sollte: das Sichtbarmachen von LGBT-Lebensweisen, das Spiel mit Gender und Identität, die Kritik an gesellschaftlichen Normen. So etwa in Ottingers Langfilmdebüt Madame X (1978), einem burlesken «Manifest» der Frauenbefreiung. In dem Piratinnenfilm lädt «die absolute Herrscherin» (Tabea Blumenschein) in ihrem Dasein gelangweilte Frauen auf ihre Dschunke und verspricht «Liebe», «Abenteuer», «Welt» und «Gold». Von überallher kommen die Frauen, die zuerst Machtkämpfe und Eifersucht durchstehen müssen, um schliesslich «mit günstigem Wind» in ein neues, selbstbestimmtes Leben zu segeln. Dabei präsentiert Ottinger «kein narratives Kino, sondern verlangt vom Publikum eine besondere Art des assoziativen Sehens und Hörens», wie Waltraud Liebl über die Filmemacherin schreibt.
Ende der 60er-Jahre kehrte die 1942 in Konstanz geborene Ulrike Ottinger aus Paris zurück, wo sie als Malerin, Fotografin und Performerin begonnen hatte, um sich dann dieser neuen Kunst zuzuwenden, dem Film, der alles umfasste, was sie interessierte: «Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, Musik und Sprache, Rhythmus und Bewegung, Öffentliches und Privates, Politisches und Poetisches, Trauer und Freude». Ausgehend von Tableaux vivants, Comics und Pop-Art entstanden ihre ersten Filme – in Darstellungsart und «Erlebnisweise» ganz «Camp», wie Susan Sontag diese Kunst der Übertreibung beschreibt, die zugleich als «Geheimcode» funktioniere, oft ebenso anziehend wie abstossend – sich aber nur aus dieser Position der Distanz «analysieren» lasse und nicht zuletzt das «Dasein als das Spielen einer Rolle» begreife.
Etwa im Bildnis einer Trinkerin (1979), dem ersten Teil von Ottingers Berlin-Trilogie. «Sie» – eine Frau von grosser Schönheit (Tabea Blumenschein), aufsehenerregend gewandet – fliegt one way nach Berlin, um dort ihrer Passion zu frönen: dem Trinken. In Alliance mit einer Pennerin folgt ein seltsam faszinierendes, aber auch geheimnisvolles Sightseeing durch die teils spektakulären, teils maroden Szenerien der geteilten Stadt. Ebendort spielt auch Freak Orlando (1981), inspiriert von Virginia Woolfs «Orlando» und Tod Brownings Freaks (1932). Als «kleines Welttheater von den Anfängen bis heute» zeichnet Ottinger darin die Historie in ebenso grossartigen wie absonderlichen Vignetten – von der Antike über mittelalterliche Säulenheilige und Geisselungsprozessionen bis zum Aufmarsch von Nazi-Truppen – in einem vom Surrealismus beeinflussten Mix aus Satire, Traum und Realität.
«Das Kino der Ulrike Ottinger ist ein Kino der Attraktionen», diese «ziehen an, stossen ab, verblüffen, machen staunen», schreibt Gertrud Koch anlässlich von Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984), dem letzten Teil der Berlin-Trilogie. Katakomben mit riesigen Wassertanks, ein mit Zeitungspapier ausstaffierter Ballsaal, die Pappmaché-Opernbühne am vulkanischen Strand: In diesen bizarren Szenerien entfaltet Ottinger eine visionäre Parabel über eine manipulatorische Welt-Boulevardpresse unter dem Zepter von Frau Dr. Mabuse (Delphine Seyrig). Mit Veruschka von Lehndorff in der Rolle des um seine romantische Liebe betrogenen Dorian Gray.
Einen Höhepunkt von Ottingers frühem Schaffen, bevor sie sich vermehrt ihren ethnografischen Erkundungen widmet, bildet der Fiktion und Dokumentarisches verknüpfende Johanna d’Arc of Mongolia (1989). Eine heiter-beschwingte Reise in der Transsibirischen Eisenbahn in Gesellschaft eines exzentrischen Trüppchens, dessen weibliche Reisende unter der kundigen Führung von Lady Windermere (Delphine Seyrig) das fahrende «huis clos» im Lauf des Films mit der Weite der Steppe vertauschen, um mit mongolischen Reiterinnen und ihrer geheimnisvollen Prinzessin in eine fremde Kultur einzutauchen.
Eine Einführung in Ulrike Ottingers Universum gibt das Künstlerporträt Die Nomadin vom See von Brigitte Kramer, das diese kleine Hommage ergänzt.
Doris Senn
Doris Senn ist Filmwissenschaftlerin und u. a. als Filmkritikerin tätig. Seit 2001 ist sie Kokuratorin und Koleiterin des schwullesbischen Filmfestivals Pink Apple.