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Corinnes Blind Dates

Nach fast sechzehneinhalb Jahren verlasse ich Ende November altershalber das Filmpodium. In dieser langen Zeit haben Sie mir und meinem Team, insbesondere Andreas Furler (bis 2013) und Michel Bodmer (2014 bis heute), Ihr Vertrauen geschenkt und unser Programmangebot neugierig angenommen. Heute bitte ich Sie erneut darum. Es ist allerdings mit einem Risiko verbunden: Ich kenne die Filme, die ich ausgewählt habe, nämlich nicht. «Zeigst du deine Lieblingsfilme?», wurde ich oft gefragt, wenn die Rede auf mein letztes Filmprogramm kam. Nein – das wäre ein zu schwieriges und verzichtreiches Unterfangen gewesen! Wie könnte ich all den Filmen gerecht werden, die ich nur schon in meiner Zeit beim Filmpodium entdecken konnte und die mich begeistert haben? Wie einen Fellini gegen einen Altman, einen Varda gegen einen Kurosawa abwägen? Bei vielen Filmen bleibt zudem nicht nur der Film selbst in bester Erinnerung, sondern das damalige Kinoerlebnis und sein Platz in der eigenen Biografie. Also habe ich mich entschieden, ein letztes Mal das Privileg meiner Arbeitsstelle zu geniessen: in die Filmgeschichte einzutauchen und Filme an die Oberfläche zu holen bzw. auf die Leinwand zu bringen, und zwar solche, die ich schon immer sehen wollte, aber nie gesehen habe.
Auch wenn ich mich seit über 40 Jahren beruflich mit Film auseinandersetze, auch wenn ich mit den Festivals problemlos auf 200 bis 250 Kinobesuche pro Jahr komme (Bildschirm-Visionierungen natürlich nicht eingerechnet), so bleiben unweigerlich unzählige Lücken. Natürlich sind viele Filme dabei, die ich bewusst weggelassen habe, als sie ins Kino kamen, und auch jetzt gar nicht sehen möchte. Noch viel grösser ist die Zahl derer, von deren Existenz ich gar nichts weiss. Viele Filme aber habe ich aus den verschiedensten Gründen verpasst (auch während meiner Zeit im Filmpodium, leider!) oder konnte sie nicht sehen, weil sie in keinem Kinoprogramm und in keiner Festival-Retro aufgetaucht sind. Diese Lücken möchte ich nun, quasi auf der Zielgeraden, ansatzweise und öffentlich schliessen. Keine Lieblingsfilme also, aber doch eine Wunschliste.

Wie findet man heraus, was man nicht kennt?
Klar, bei etlichen Titeln, die immer wieder auftauchen, waren mir die Lücken bewusst: Die ganze Sissi-Trilogie, auch Godzilla und Sciuscià habe ich nie gesehen, Pulp Fiction erst diesen Frühsommer im Rahmen der Vorbereitung der «Neo Noir»-Reihe. Doch wie herausfinden, was man nicht kennt, was aber sozusagen zum «Weltkulturerbe» des Kinos zählt? Zum Glück gehören Überblicksreihen zur Filmgeschichte zum Kerngeschäft des Filmpodiums. Aus immer wieder anderen Perspektiven haben meine Vorgänger, KollegInnen und ich die Filmgeschichte präsentiert, sodass das Filmpodium über etliche Listen von «unumgänglichen» Filmen verfügt. Diese Listen – um jene mit Oscar-Nominationen, mit Palmen, Löwen, Pardi und anderer Flora und Fauna dekorierten Filmen und um die «Filmliste» des Seminars für Filmwissenschaft der hiesigen Uni ergänzt – bin ich durchgegangen und habe mir die Titel notiert, die mir bekannt vorkamen und so als Lücke bewusst wurden.

Blindflug? Nicht ganz!
Sie alle haben sicher schon die Erfahrung gemacht, dass sich bei einem Film, der Sie bei seiner Premiere beeindruckt, berührt oder sogar überwältigt hatte, beim zweiten Ansehen Jahre später das damalige Glücksgefühl einfach nicht mehr einstellen wollte. Es wich einer leisen oder heftigen Enttäuschung. Oder einfach der Erkenntnis, dass der Film früher wohl einen Nerv getroffen haben musste, jetzt aber bestenfalls als Dokument des damaligen Zeitgeistes funktionierte, sonst aber arg Staub angesetzt hatte. Selbstverständlich konnte ich nicht ausschliessen, solche «Nieten» unter den 115 Titeln zu haben, auf die ich meine lange Longlist reduziert hatte. Um solche Enttäuschungen zu vermeiden, habe ich darum meine Shortlist zehn ehemaligen und aktuellen Arbeitskolleginnen und -partnern, Festivalgängerinnen und Filmredaktoren aus meinem direkten Umfeld geschickt: Sie sollten aus diesen Filmen, sofern sie sie selbst gesehen hatten und sie ihnen noch präsent waren, diejenigen angeben, die sie gerne wiedersehen würden oder auf die sie zumindest neugierig waren. Mit diesen Referenzen ausgestattet, habe ich schliesslich rund 25 Titel ausgewählt und abgeklärt, um daraus ein möglichst facettenreiches Programm von 16 Filmen zusammenzustellen, die ich mit Ihnen entdecken möchte. Da nicht alle schon einmal im Filmpodium gezeigt wurden (etwa The Ox-Bow Incident, Muerte de un ciclista und Un carnet de bal), dürfte auch für die eingefleischtesten Stammgäste noch Neues dabei sein. Ich freue mich darauf!
Corinne Siegrist-Oboussier

Für ihr Feedback zur Longlist danke ich herzlich Michel Bodmer, Benedikt Eppenberger, Martin Girod, Tanja Hanhart, Marius Kuhn, Primo Mazzoni, Bernadette Meier, Annelies Ruoss, Michael Sennhauser und Hansmartin Siegrist.