Jean-Louis Trintignant: Ein schillernder Schauspieler
Mit Jean-Louis Trintignant ist am 16. Juni 2022 einer der herausragendsten Schauspieler des franko-italienischen Kinos im Alter von 92 Jahren verstorben. Das Filmpodium widmet ihm eine Retrospektive, die auch seine zwei selten gesehenen Regiearbeiten umfasst: Die makabre Komödie Une journée bien remplie … und die Satire Le Maître-nageur runden die Würdigung des Charakterdarstellers ab.
Jacques Deray hatte beträchtliche Schwierigkeiten, die zweite Hauptrolle seines Thrillers Flic Story (1975) zu besetzen. Alain Delon stand von vornherein fest als Inspektor Roger Borniche, der Émile Buisson jagt, den meistgesuchten Verbrecher der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sein Gegenspieler aber zauderte. Jean-Louis Trintignant war Derays Traumbesetzung, doch er wollte die Rolle partout nicht übernehmen.
Es störte ihn nicht, einen Schurken zu spielen; das hatte er schon oft genug getan. Auch die Leinwandpräsenz seines Kostars schüchterte ihn nicht ein. Nein, er fühlte sich ausserstande, eine derart harte Figur zu verkörpern. Es brauchte lange, heftige Diskussionen, bis der Regisseur ihn endlich vom Gegenteil überzeugen konnte. Trintignant hatte sich offensichtlich unterschätzt; das Porträt Buissons zählt zu seinen Meisterstücken. Das Paradoxon des Schauspielens – Aspekte einer Figur in sich zu finden und zugleich über die eigene Persönlichkeit hinaus zu denken und zu fühlen – übertrug er in eine Binnenspannung seiner Figur: Sein Buisson wirkt verstört und ruhig, verrückt und scharfsinnig. Der Schauspieler verbürgerlicht den unberechenbaren, rücksichtslosen Verbrecher. Vor dem Essen poliert er Besteck und Geschirr artig mit der Serviette. Und «Le Figaro» liest er auf der Flucht nicht nur zur Tarnung, sondern gewiss auch aus konservativer Neigung.
Vielleicht hat Deray sich von Alain Cavalier inspirieren lassen, der Trintignant in Le combat dans l'île (1962) genauso inszeniert hatte: als eine Chiffre der Widersprüchlichkeit, der Zerrissenheit. Ohne ein Schillern ist dieser Schauspieler nicht zu haben. Er scheut sich nicht, das Andere, das Fremde zu verkörpern, und wirkt dabei doch immer nahbar. So kann er, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Schwebe halten, ob der Revolverheld in Sergio Corbuccis Il grande Silenzio (1968) nun ein Engel oder der Teufel ist. Er handelt stets in Notwehr – ein Träumer, der die Welt mit der Pistole verbessern will, spottet einer seiner Gegner.
Charmanter Charakterstar
Trintignants Erscheinung spielt diesem Schillern zu. Sie ist von beschwichtigender Normalität. Er ist eher klein und schmächtig, der Kopf scheint zu gross für die schmalen Schultern. In Et Dieu...créa la femme (1956) haben Brigitte Bardot und die gestandenen Mannsbilder (Christian Marquand, Curd Jürgens), mit denen er um ihre Gunst rivalisiert, anfangs noch leichtes Spiel mit ihm. Nur sein durchdringender, beharrlich sein Gegenüber fixierender Blick kündigt an, dass mit ihm zu rechnen ist.
Dem jungen «leading man» Trintignant eignet eine bis dahin im Kino ungewohnte Schönheit. Seine Züge sind leicht asymmetrisch. Die sinnlichen Lippen und die schmale Nase bilden einen anmutigen Gegensatz. Sie sind ein Versprechen von Sanftheit und Zärtlichkeit. Zunächst tritt Trintignant noch schüchtern und verschlossen auf; ein Zögernder, der das Leben vielleicht gern leichter nehmen würde, aber dafür einen Mentor braucht. Dino Risis Il sorpasso (1962) markiert den Wendepunkt auf diesem frühen Karriereweg: Zusammen mit dem unerbittlich extrovertierten Vittorio Gassman bildet Trintignant eines der grossen maskulinen Gespanne der Filmgeschichte.
Seine Virilität, derer sich der Schauspieler anfangs nicht gewiss sein kann, bringt dann Claude Lelouch unzweifelhaft zur Geltung. In Un homme et une femme (1966) besetzt er ihn als wagemutigen Rennfahrer, der sich in die Witwe Anouk Aimée verliebt. Nun löst Trintignant das frühe romantische Versprechen ein. Er wird zum Inbegriff von Lelouchs Credo, dass die Welt eine Auster ist, die sich am besten mit Charme öffnen lässt. Jetzt zögert Trintignant nicht mehr, sondern wartet respektvoll. Sein Blick ist nicht schmachtend, sondern wissbegierig und aufmerksam. Er hat das Zeug zum smarten Leinwandidol à la Delon oder Belmondo. Stattdessen avanciert er (neben Michel Piccoli) zum grössten Charakterdarsteller des franko-italienischen Kinos seiner Generation.
Die Liste der Filmschaffenden, die er fasziniert, liest sich wie das Adelsregister des europäischen Autorenfilms, sie reicht von Costa-Gavras über Krzysztof Kieślowski bis Michael Haneke (der ihn aus dem Ruhestand zurückholt). Éric Rohmer stellt sogar die Reihenfolge seiner «Six contes moraux» um und wartet einen Winter ab, in dem Trintignant endlich für Ma nuit chez Maud frei ist. François Truffaut will schon seit einer halben Ewigkeit mit ihm drehen, bis er bei Vivement dimanche! (1983) schliesslich die geeignete Rolle für ihn findet: Dieser Schauspieler kann in seinen Augen einzigartig glaubhaft «Verführer und Ekel in einem» sein. Trintignant seinerseits geniesst es, in diese gegensätzlichen kreativen Universen einzutauchen und dabei unterschiedliche Register zu ziehen. Bei Truffaut etwa gewinnt er eine ungekannte Leichtigkeit, verleiht seinen Dialogen eine fast boulevardhafte Melodik. Zugleich zeigt er sich als ein grosszügiger Darsteller, der seinen Partner:innen viel Spielraum lässt. Er weiss, dass Vivement dimanche! letztlich Fanny Ardant «gehört» und Trois couleurs: Rouge (1994) vor allem eine Glanzrolle für Irène Jacob bereithält.
Schwermut und schwarzer Humor
In über 140 Film- und Fernsehrollen ist der Schauspieler aufgetreten und hat nebenbei auch noch Zeit gefunden, selbst zwei eigensinnige Filme, die von schwarzem Humor bersten, zu inszenieren. Diese Schaffenskraft ist einer existenziellen Schwermut und schweren Schicksalsschlägen abgetrotzt, namentlich dem plötzlichen Kindstod seiner einen Tochter 1970 und der Ermordung seiner anderen, erwachsenen Tochter Marie 2003.
Sein Publikum kann darauf vertrauen, dass dieser Künstler keine Rolle leichtnimmt. Seine Figuren legen dann allerdings eine überraschende Tatkraft an den Tag. Der Untersuchungsrichter, den er in Z (1969) spielt, mutet eingangs wie ein unauffälliger, gehorsamer Bürokrat an. Rasch jedoch bietet er dem repressiven System und den Mächtigen die Stirn, als ein unabhängiger, unerbittlicher und raffinierter Wahrheitssucher.
Sein Darsteller ist es ebenfalls. Unnachgiebig forscht Trintignant nach der Wunde seiner Figuren, die nicht vernarben kann. In Il conformista (1970) ist es der Missbrauch, den Marcello Clerici als Kind erfuhr. Nach Le combat dans l'île rechnet er bei Bernardo Bertolucci seinen zweiten faschistoiden Charakter scharf aus. Clerici versucht, eine Normalität für sein Leben zu konstruieren, die konform gehen soll mit den Werten des Mussolini-Regimes. Spürt er, dass dies eine Schimäre ist? Jedenfalls sabotiert er das eigene Vorhaben fortwährend. Trintignant legt ihn sprunghaft an; sein Begehren ist verächtlich, kalt, ziellos. Bei der Beichte legt ein renitentes Zucken der Augenbrauen sachten Widerspruch ein. Sein Körperspiel ist beherrscht, er moduliert unablässig Gesten der Abwehr, Verdrängung und Verweigerung. Seiner inneren Zerrissenheit wird Clerici allenfalls Herr, wenn er die typische Trintignant-Haltung annimmt: Er legt die Rüstung des Bourgeois an. Den Rücken hoch aufgerichtet, rammt er die Hände tief in die Taschen seiner eng anliegenden, zugeknöpften Jacketts und Mäntel. Seine Fäuste sind geballt: im Wartestand.
Gerhard Midding
Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.