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Pink Apple: Ehrenpreis Golden Apple für Marco Berger

Pink Apple verstärkt seine Zusammenarbeit mit dem Filmpodium. Von Marco Berger, dem diesjährigen Gewinner des Ehrenpreises «Golden Apple 2023» für seine Verdienste im queeren Filmschaffen, ist neben einer Retrospektive auch sein neuster Film Los agitadores als Premiere zu sehen sowie als weitere Erstaufführung Fogo-Fátuo, das queer-schräge neue Werk des Portugiesen João Pedro Rodrigues. Das zeitgenössische lateinamerikanische Kino wird aus eurozentrischer Sicht oft als eine vermeintlich homogene Filmbewegung mit starker Verwurzelung im Erzählen indigener Lebenserfahrungen verstanden. Die filmische Überwindung postkolonialistischer Traumata von unterrepräsentierten Stimmen erlebt dieweil weltweit grosse Aufmerksamkeit. Ein lateinamerikanisches Kino per se gibt es aber nicht. Vielmehr präsentiert sich jedes der 27 Länder, die unter diesem politisch-kulturellen Begriff zusammengefasst werden, reich an unterschiedlichen filmischen Traditionen und Werten.
Der Regisseur und Drehbuchautor Marco Berger (*1977 in Buenos Aires) zeigt seine Perspektive auf die argentinische Gesellschaft und ihren Umgang mit Machismo, toxischer Männlichkeit, sexueller Unterdrückung und den vielschichtigen, komplexen Formen sexueller Orientierung. Er gilt im Kontext der queeren Filmgeschichte als eine:r der wichtigen Exponent:innen der letzten 15 Jahre und sollte auch als eine herausragende Stimme des lateinamerikanischen Kinos verstanden werden. Doch bis heute steht sein Schaffen in den nicht spanischsprachigen Regionen oft im Hintergrund. Mit einer umfangreichen Retrospektive an seiner 26. Ausgabe möchte das Festival Pink Apple dem entgegenwirken. Sieben der bisher neun Langfilme von Marco Berger können dieses Jahr am bedeutendsten queeren Filmfestival der Schweiz entdeckt werden – fünf davon im Filmpodium.

Vielfalt und Verführung
2007 schloss Berger sein Filmstudium an der Universidad de Cine in Buenos Aires ab. Sein Kurzfilm El reloj bescherte ihm 2008 Einladungen der Cinéfondation in Cannes und des Sundance Film Festival. 2009 präsentierte Berger sein Langfilmdebüt Plan B, eine romantische Komödie über zwei Männer, die sich über Umwege näherkommen. Der Film gilt mittlerweile als ein queerer Filmklassiker, der unaufgeregt thematisiert, dass Männer vielfältige sexuelle Orientierungen ausleben können und dürfen. Im formalen Gegensatz dazu offenbart Berger sein Talent für subtile Spannungsmomente im Umgang mit dem Thriller-Genre mit seinem zweiten Langfilm Ausente (2011). Dieser wurde an der Berlinale mit dem Teddy Award, dem wichtigsten queeren Filmpreis der Welt, ausgezeichnet. In Ausente versucht der 16-jährige Sebastián alles, um seinen Schwimmlehrer zu verführen, und treibt diesen in ein verhängnisvolles Netz aus Lügen, Schuldgefühlen und Angst. Bergers Gespür und seine filmische Stärke offenbaren sich spätestens jetzt in der Genauigkeit, mit der er das Aufkeimen von Begierden in Gesten, Blicken und anderer nonverbaler Kommunikation erforscht und zugleich Strategien zeigt, mit denen das eigene Verlangen in Schach gehalten wird.

Bergers «gay gaze»
Mariposa (2015) spielt mit dem Schicksal und der Frage «Was wäre, wenn?» und etabliert ganz selbstverständlich eine spezifisch homoerotische Lesart seiner (meist heterosexuellen) Figuren. In der Kanonisierung von Bergers Werk kann spätestens ab diesem Film von einem sogenannten «gay gaze» gesprochen werden, einem analog zu Laura Mulveys Begriff «male gaze» gedachten objektivierenden schwulen Blick auf den Männerkörper. Die subtile Andeutung homoerotischer Begierde zwischen Männern, deren sexuelle Orientierung man nicht immer kennt, bildet den Kern von Bergers filmischer Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Effekt die konstante Unterdrückung der sexuellen Freiheit auf die toxische Männlichkeit in Argentiniens Gesellschaft ausübt. In Un rubio (2019) thematisiert der Regisseur die Bisexualität einer seiner Hauptfiguren, wie das nur wenige queere Filme schaffen. Ihn fasziniert, wie männliche Sexualität funktioniert und wie klar die Grenzen zwischen homo-, bi- und heterosexuell gezogen werden können (oder eben nicht). Welchen Sprengstoff dies beinhalten kann, präsentiert Berger in Los agitadores (2022). Eine Horde junger sportlicher Kerle verbringt die Weihnachtsferien in einem Sommerhaus. Sie albern herum, imitieren obszöne Sexpraktiken und bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Homoerotik und Homosexualität – bis einer der jungen Männer sich wirklich als schwul offenbart.
Marco Berger wird Los agitadores anlässlich der Verleihung des «Golden Apple 2023» persönlich im Filmpodium als Schweizer Premiere präsentieren.
Andreas Bühlmann

Andreas Bühlmann ist Artistic Co-Director des Pink Apple Film Festivals.