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Premiere: City Hall

Frederick Wiseman, dem das Filmpodium 2015 eine Retrospektive gewidmet hat, zählt auch mit 93 Jahren noch zu den weltweit wichtigsten Exponenten des Dokumentarfilms. Seine Spezialität sind Studien von Institutionen, und in City Hall (2020) entwirft er ein viereinhalbstündiges Porträt der Stadtverwaltung von Boston und ihres Bürgermeisters. In den Medien wird oft geunkt, die Demokratie der USA stecke in der Krise, wenn nicht in einer Todesspirale; die extreme Polarisierung der Parteien mache das Land handlungsunfähig. Der vielbeschworene Streit zwischen progressiv-woken Demokrat:innen und halsstarrig-konservativen Republikaner:innen kümmert die meisten Amerikaner:innen aber wenig. Den Alltag prägen jene realen demokratischen Institutionen, die das Land in Gang halten und sich mit wechselndem Erfolg um die Anliegen der Bürger:innen bemühen.
Das Klein-Klein der Demokratie hält Frederick Wiseman in City Hall fest. Dieses Stadt-Fresko ist eine Art Summa seines bisherigen Schaffens, denn darin tauchen sowohl Institutionen auf, die er früher porträtiert hat, als auch vertraute Themen wie körperliche Beeinträchtigung, Wohnungsnot, Rassismus und soziale Benachteiligung.
Bürgermeister Marty Walsh, der schon Kämpfe mit Krebs und Alkoholismus hinter sich hat, wirkt glaubwürdig, wenn er mit Menschen in Notlagen spricht; man nimmt ihm sein Engagement für die Schwächeren ab. Andererseits ist er auch ein Vollblutpolitiker, der weiss, wie man sich medienwirksam in Szene setzt. Wie immer verzichtet Wiseman auf einen Off-Kommentar. Er stürzt das Publikum mitten in Reden und Debatten und zeigt diese teilweise in einer Ausführlichkeit, die das immanent Langwierige demokratischer Prozesse spürbar macht. City Hall verlangt Sitzleder, belohnt die Ausdauer des Publikums aber mit einmaligen Einblicken in die Politik auf Bürger:innenebene. (mb)