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Satyajit Ray: Einzigartigkeit und Universalität

Wie kein anderer vermochte der indische Regisseur Satyajit Ray (1921–1992) westliche Einflüsse mit bengalischer Tradition zu verbinden, historische Stoffe aus der Kolonialzeit kritisch aufzuarbeiten und zugleich die urbane Gegenwart Indiens aufs Korn zu nehmen. Bei manchen von Rays Filmen ist die rechtliche Situation schwierig und gutes Material schwer aufzutreiben; umso mehr freut es uns, nun siebzehn Filme in zumeist restaurierter Fassung zu präsentieren. Vor der Geburt des Jungen Apu in Satyajit Rays Pather Panchali (1955) sehen wir seine Mutter Sarbajaya atemlos, nachdem sie schwere Gefässe mit Wasser von einem entfernten Brunnen hergetragen hat. Ihre Erschöpfung wird noch verstärkt durch den scharfen Spott einer Nachbarin, weil ihre Tochter Durga eine Frucht aus deren Garten gestohlen hat. Als Sarbajaya sich im Hof ihres Hauses hinsetzt und Durga wegen des Diebstahls ausschimpft, drückt ihre Atemlosigkeit sowohl die Belastung durch die Schwangerschaft als auch ihre verletzte Würde aus. Sarbajayas unruhiges, schweres Atmen steht sinnbildlich für die Konflikte, Todesfälle und Migrationswellen vom Land in die Stadt, denen Apus verarmte Familie ausgesetzt sein wird. Pather Panchali bietet ein intimes, poetisches Porträt des Lebens in einem bengalischen Dorf im Indien der 1930er-Jahre mit Seitenblicken in die sich schnell verändernde moderne Welt rundherum. Gleichzeitig vermittelt er ein umfassendes Bild, das im langsamen Rhythmus des menschlichen Atems, in den menschlichen Beziehungen, aber auch im materiellen Leben der Blätter, der Jahreszeiten und der Tiere, die Apus Familie umgeben, zum Ausdruck kommt. Es ist das gleichzeitige Gefühl von «Einzigartigkeit und Universalität», das die Filme von Satyajit Ray von allem Anfang an auszeichnet.

Ost trifft West
Genau wie der erste indische Premierminister Jawaharlal Nehru war auch Ray ein Produkt von Ost und West, und seine künstlerische Sensibilität war von diesem bewussten und zurückwirkenden Zusammenfliessen geprägt. Doch Rays Weg zum Filmemachen war nicht geradlinig. Er begann seine berufliche Laufbahn als Werbegrafiker in Kalkutta (dem heutigen Kolkata), wo er nebenbei seiner Filmliebhaberei frönte: Er gründete zusammen mit Chidananda Das Gupta und anderen die Calcutta Film Society, die ab 1947 zur Verbreitung einer lebendigen Filmkultur in Indien beitrug. Die Film Society ermöglichte es ihm, in die Vielfalt des internationalen Kinos einzutauchen, wobei er sich akribisch Notizen machte. Als er 1949 Jean Renoir kennenlernte, der für die Dreharbeiten zu The River (1951) in Kolkata weilte, beschloss er, sich nun richtig dem Filmemachen zuzuwenden. Ray half Renoir beim Rekognoszieren von Drehorten, und ihre Begegnung bestärkte ihn in seinem Vorhaben, Pather Panchali zu drehen. Im darauffolgenden Jahr verbrachte Ray einige Zeit in Europa, wo er innerhalb von fünf Monaten über neunzig Filme sah. Einer davon war Vittorio De Sicas Ladri di biciclette (1948), der ihn davon überzeugte, dass ein Film auch mit einem kleinen Budget, einer kleinen Equipe und ohne aufwendige Studiounterstützung gedreht werden kann. Wie der Filmhistoriker Ravi Vasudevan bemerkt, werden sich Rays Filme jedoch durch ein Bemühen um Ausgewogenheit und Tempo auszeichnen, das über den Einfluss des Neorealismus hinausgeht.
Eine prägende Zeit für Rays künstlerische Entwicklung war sein Studium der Malerei in Shanti Niketan, einer experimentellen Universität, die der bengalische Nobelpreisträger und Universalgelehrte Rabindranath Tagore gegründet hatte. Tagore blieb auch später einflussreich für Ray, kehrte dieser doch im Laufe seiner Karriere mit Adaptionen wie Three Daughters (1961), The Lonely Wife (1964) und The Home and the World (1984) immer wieder zu Tagores Werk zurück. Ein tiefgreifendes Kunsterlebnis war für Ray 1942 ein Besuch der Ajanta- und Ellora-Höhlen, wo ihn die klassische indische Kunst beeindruckte, aber auch die Künstler der Steinfresken, die «wussten, wie man schaut und sieht – wie man menschliches Verhalten beobachtet», wie er seiner Biografin Marie Seton erzählte.

Thematische und stilistische Vielfalt
Während Ray in vielen Filmen einen grossen Aufwand betreibt, um die Vergangenheit einzufangen und nachzustellen – sei es das aristokratische Milieu während der bengalischen Renaissance des 19. Jahrhunderts in The Lonely Wife (1964), der indische Aufstand von 1857 gegen die Herrschaft der British East India Company in The Chess Players (1977) oder das dekadente Reich der «Zamindars» (Grossgrundbesitzer) im Bengalen der 1930er-Jahre in The Music Room (1958) –, bleiben seine Stadtfilme auf die Gegenwart fixiert: Wir erleben Kalkutta in den1960er- und 1970er-Jahren während der tobenden linksextremen Naxaliten-Bewegung oder im Schatten des indischen Ausnahmezustands (1975–1977). Ein weiteres Beispiel ist The Big City (1963): Sehr zum Unmut des Patriarchen muss dessen Schwiegertochter Arati in die urbane Arbeitswelt eintreten und sich im rasanten Wandel der Grossstadt behaupten. In einem kritischen Moment des Films eilt Arati atemlos vor Zorn zum Büro ihres Vorgesetzten und verlangt von ihm eine Entschuldigung dafür, dass er ihre anglo-indische Kollegin beleidigt und gefeuert hat. Als er sich weigert, schäumt Arati vor Wut und kündigt ihre Stelle. Der Film endet damit, dass sie sich mit ihrem Mann zusammentut und nur einen schwachen Schimmer Hoffnung hat, es im hektischen Trubel der Grossstadt zu schaffen. Eine Lösung für die finanziellen Probleme der Familie bietet uns der Film nicht, wohl aber eine Meditation über ihr Dasein in der Gegenwart.
Sei es im Zorn, in der Erschöpfung, im Nachdenken oder in der Aufregung, sei es in einem Dorf im kolonialen Bengalen oder im Aufruhr einer geschäftigen Stadt  die Beschäftigung mit der Dramatik des menschlichen Atems zieht sich als Konstante durch Rays Filme. Sie üben eine universelle Anziehungskraft aus, weil er sich einer ureigenen Fähigkeit des Kinos verschrieben hat: die physische Realität einzufangen. Ob in komplexen Geschichten über Tradition und Moderne (Apu-Trilogie), in Komödien (The Holy Man, 1965), Krimis (The Elephant God, 1979) oder gar in einer Geistergeschichte (The Lost Jewels, 1961), Rays Filme bieten nicht nur einen Einblick in die Vergangenheiten und die vielfachen Gegenwarten Indiens, sondern auch die Möglichkeit, mit den Landschaften und den Menschen und Tieren, die darin leben, beisammenzusitzen und mit ihnen zu atmen. Seine mikrokosmischen, detailreichen Porträts lassen uns einen Pulsschlag spüren, wie es nur das Kino kann, in einer Sprache, die keiner Übersetzung bedarf.
Ritika Kaushik

Ritika Kaushik ist Filmwissenschaftlerin, Videoessayistin und Kuratorin. Sie lebt in Frankfurt.