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Sight & Sound's Greatest Films: Die Filmpodium-Edition

Unser Publikum hat gewählt! Die 100 besten Filme aller Zeiten, die die britische Filmzeitschrift «Sight & Sound» Ende 2022 präsentierte, als Basis nehmend, haben wir unsere Zuschauer:innen gebeten, aus dieser Liste ihre Lieblingsfilme auszuwählen. Nun liegt das Ergebnis vor. Auf dem ersten Platz: mit je 86 Stimmen Die sieben Samurai von Akira Kurosawa und Once Upon a Time in the West von Sergio Leone. Chantal Akermans Jeanne Dielman hat es im Filmpodium nur auf Platz 49 geschafft. Wir zeigen die Nummer 1 der «Sight & Sound»-Liste natürlich trotzdem. Ein idealer Ausgangspunkt, um über den Filmkanon, Jurys, Vibes und Listomonia zu diskutieren. Zudem haben wir die Journalistin Hannah Pilarczyk eingeladen, in einem Essay für uns über dieses Phänomen nachzudenken.

1.
Auf den ersten Blick haben Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles und klobige Turnschuhe, sogenannte Ugly Sneakers, nichts gemeinsam. Auf den zweiten auch nicht. Aber vielleicht auf den dritten oder den vierten – in jedem Fall dann, wenn der Blick durch die Gegend streift und nicht nur eine einzelne Sache, sondern auch ihr Umfeld registriert. Dann fallen einem neben Ugly Sneakers vielleicht noch die weiten Jeans und rasierten Schläfen auf, wie sie gerade von vielen Jüngeren getragen werden, und dass die Trägerinnen einen Hang zur Social-Media-App TikTok und zur Netflixserie Sex Education haben. Gemeinsam fügen sich diese Beobachtungen zu etwas, das weniger als eine Ära ist, aber mehr als eine Mode – sie ergeben eine ästhetische Konstellation oder wie es seit einiger Zeit im englischsprachigen Raum genannt wird: einen Vibe.


2.
Vibe meint wörtlich Stimmung oder Atmosphäre, aber auch Schwingung: etwas, das Menschen, Räume und Dinge durchdringt und sie sanft in Bewegung versetzt. Die Verwendung des Begriffs in dieser Lesart geht auf den US-amerikanischen Trendanalysten Sean Monahan zurück, der ihn Anfang 2022 in seinem Newsletter 8Ball verwendete und im Anschluss vom einflussreichen Stadtmagazin «New York Magazine» aufgegriffen und popularisiert wurde. Monahan prognostizierte, dass mit Ende der Pandemie ein vibe shift bevorstehen werde, ein Wandel in den bisherigen Einstellungen zu Mode, Medien, Popmusik und sogar Politik. Rockmusik werde einen Aufschwung erleben und die App Discord die Diskussionsplattform der Stunde sein; Marken wie Diesel würden wieder gefragt sein, während die Skepsis gegenüber traditionellen politischen Prozessen weiter steigen werde.
Als Trendanalyst verdient Monahan sein Geld damit, griffige Schlagworte zu entwickeln und Markennahmen mit ihnen in Verbindung zu bringen. Trotzdem spricht vieles für seinen Vibe-Ansatz. In Zeiten absoluter Quantifizierbarkeit, in der Vorlieben weltweit durch Klicks, Verkaufszahlen und digitale Interaktionen messbar zu sein scheinen, täuscht die Verfügbarkeit von Zahlen nämlich darüber hinweg, wie viel diese wirklich aussagen, wenn sie isoliert betrachtet werden. Die Klickzahlen von Bad Bunny, dem meistgespielten Künstler auf Spotify 2022, sagen eben noch nichts darüber aus, warum sich 2022 anders anfühlt als 2017, als Ed Sheeran am beliebtesten war.


3.
Und nun kommt endlich Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles ins Spiel – beziehungsweise die Umfrage des britischen Filmmagazins «Sight & Sound», in der der Film vergangenes Jahr zum besten aller Zeiten gewählt worden ist.
Als der Poll am 1. Dezember 2022, wie gewohnt im Zehn-Jahres-Rhythmus, veröffentlicht wurde, stiess er auf heftige Reaktionen. Dass mit Chantal Akerman nicht nur zum ersten Mal in der 70-jährigen Geschichte eine Frau die Umfrage anführte, sondern dies auch noch mit einem dreistündigen feministischen Anti-Epos tat, begeisterte einige und erzürnte andere. 50 Jahre lang hatte Orson Welles’ Citizen Kane in der Umfrage vorn gelegen, erst 2012 war er von Alfred Hitchcocks Vertigo abgelöst worden. Als jemand, der an der aktuellen Umfrage teilnehmen durfte, kann ich sagen, dass bereits bei der Abstimmung spürbar war, dass 2022 nochmals andere Ergebnisse bringen würde. Nicht, weil die verfügbaren Zahlen Derartiges nahegelegt hätten (in den globalen Kinocharts der vergangenen zehn Jahre ist mit Wonder Woman von Patty Jenkins unter hundert Filmen ein einziger vertreten, bei dem eine Frau allein Regie geführt hat), sondern weil es andere, «weiche» Indikatoren dafür gab, dass die Einstellungen in Bezug auf die besten Filme aller Zeiten im Wandel begriffen waren – eben dass sich der Vibe änderte. Die Diskussionen 2012 um den Wettbewerb von Cannes, in den keine einzige Regisseurin eingeladen war, gehörten dazu, der Durchbruch von #MeToo 2017, die Auszeichnung von Parasite als bester Film des Jahres 2020 bei den Oscars als erst zweiter nicht englischsprachiger Film, die Goldene Palme 2021 für Julia Ducournau als erste Frau, die den Preis nicht teilen muss.
Zusammen wirken die Entwicklungen auf die Abstimmungsergebnisse des «Sight & Sound»-Polls ein. Sie stehen für ein gewachsenes Bewusstsein dafür, wie sehr die Filme von Frauen, aber auch von Filmschaffenden aus nicht westlichen Kulturräumen marginalisiert worden sind. Die Zahl der Filme aus Afrika etwa stieg im Vergleich von 2012 zu 2022 von eins auf sieben. Wie bei der Oscar-Academy, die die Zahl ihrer Stimmberechtigten vervielfacht hat, macht sich auch beim «Sight & Sound»-Poll bemerkbar, dass seine Basis verdoppelt und diversifiziert wurde.
Die 2022er-Liste belegt zudem die wachsende Überzeugung, dass man Filmgeschichte auch von ihren Rändern her denken kann, von Werken, die nicht so sehr für die Perfektion einer gegebenen Formensprache stehen, sondern für deren Öffnung, Ergänzung, womöglich sogar Sprengung.

4.
Ästhetische Präferenzen, das macht der Begriff des Vibe deutlich, kommunizieren mit Entwicklungen in anderen Bereichen und ändern sich dadurch. Einem Vibe nachzuspüren, heisst daher auch, Dynamiken zu erfassen. Dann versteht man, warum Ugly Sneakers nur dem Namen nach noch «ugly» sind, ansonsten aber sehr beliebt. Und warum Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080 Bruxelles auf Platz 1 der besten Filme aller Zeiten geklettert ist – weil es auch ein Film aus unserer Zeit für unsere Zeit ist.
Hannah Pilarczyk

Hannah Pilarczyk arbeitet als Filmkritikerin beim «Spiegel». Ihr Lieblingsfilm, der in keiner Bestenliste auftaucht, ist Man’s Favorite Sport? von Howard Hawks.