Wang Bing: Gefühlvoll radikal
Wie kaum ein anderer Filmemacher hat Wang Bing den Wandel Chinas in den vergangenen 20 Jahren dokumentiert und begleitet. Seit seinem Debüt, Tie Xi Qu: West of the Tracks (2003), der monumentalen Chronik über den Niedergang eines Industrieviertels, konzentriert er sich in seinen vielfach preisgekrönten Dokumentarfilmen auf den Alltag einfacher Menschen. Er begleitet sie zurückhaltend und stets mit grosser Zuneigung und zeigt, wie sie sich dem Wandel der chinesischen Gesellschaft anpassen müssen. Immer wieder kehrt Bing auch zur Geschichte Chinas zurück und gibt seinen Protagonist:innen die Möglichkeit, von ihren teils überaus schmerzhaften Erlebnissen zu berichten. Die Retrospektive bietet die seltene Gelegenheit, dieses humanistische Kino auf der Leinwand zu entdecken, darunter auch Youth (Spring) und Man in Black, Wang Bings neuste Arbeiten. Wir freuen uns, Wang Bing am 12. Juni im Filmpodium begrüssen zu dürfen. In einem ausführlichen Gespräch wird er mit dem Filmemacher Cyril Schäublin über seine Arbeit sprechen.
Wang Bing ist eine herausragende Figur des zeitgenössischen Kinos und in jeder Hinsicht ein Einzelgänger. Seine Dokumentarfilme werden an allen grossen Festivals gezeigt und erhielten dort bereits unzählige Auszeichnungen. Das Lincoln Center (NY), die Tate Modern, das Centre Georges Pompidou und die Documenta 14 widmeten ihm Werkschauen. Und doch sind Ruhm und der Funkenregen grosser Bühnen das Letzte, was ihn bewegt. Was den zweifelsfrei wichtigsten Dokumentaristen der Volksrepublik China interessiert, ist nur eines: sein nächster Film.
Keines seiner Werke kam jedoch in China ins Kino, da er abseits und unabhängig von der unter straffer staatlicher Kontrolle stehenden Filmindustrie arbeitet. Wang ist trotz seiner Erfolge kein Aushängeschild, er zählt zu keiner Bewegung, und auch zu heimischen Berufskolleg:innen pflegt er wenig Kontakt. Seine Filme, explizit für die grosse Leinwand konzipiert, sind trotz der Unterstützung westlicher Geldgeber Low-Budget-Produktionen, denn Wang arbeitet mit einem minimalen Team am Set, oft sogar alleine, um sich grösstmögliche Autonomie zu bewahren.
Seine dokumentarische Methode, das reine Beobachten, ohne Regieeingriffe, ohne Kommentar und (mit wenigen Ausnahmen) ohne Interviews, steht in der Tradition des Direct Cinema. Vergleiche mit den Begründern dieser dokumentarischen Methode und vor allem mit Frederick Wiseman, ihrem prominentesten Vertreter, liegen deshalb auf der Hand. Dennoch bestehen erhebliche Unterschiede zu diesen Autoren, und es verwundert nicht, dass Bing, nach Vorbildern befragt, häufig Antonioni oder Tarkowski erwähnt, Regisseure, die – wenn auch im Spielfilm – genauso wie er grossen Wert auf die innere Dramaturgie einer Einstellung legten und Figuren immer auch über ihre Beziehung zum Handlungsraum erzählten.
Schon sein erster Film, der in drei Teilen konzipierte Tie Xi Qu: West of the Tracks (2003), der bei vielen Filmkritiker:innen als einer der imposantesten der neueren Dokumentarfilmgeschichte gilt, schöpft Kraft aus dem Amalgam aus Protagonist:innen und Handlungsraum. Bei endlosen Zugfahrten durch verschneite und heruntergekommene Stahlindustrieanlagen im Nordosten Chinas, bei der Beobachtung der dort tätigen Menschen während der Arbeit oder in der Freizeit haben die zumeist tristen Handlungsschauplätze immer auch eine psychologische und seelische Dimension. Diesem ästhetischen Verfahren bleibt er treu bis hin zu seinem letzten Werk, dem in seiner Konsequenz eindrucksvollen Youth (Spring) (2023), der während fünf Jahren jugendliche Wanderarbeiter: innen der Textilindustrie begleitet. Die schäbigen Produktionsstätten und die noch schäbigeren Werkswohnungen, die uns fremd sind und doch durch die Beharrlichkeit der Kamera an Vertrautheit gewinnen, werden zu einer Art Lebensbühne: In diesen gleichzeitig realen und filmischen Räumen wird hart gearbeitet, gelitten, gestritten, um mehr Lohn gekämpft, doch auch herumgealbert, gelacht, geflirtet und der Resignation widerstanden. Auch das bitterarme Dorf im Yunnan- Gebiet aus Three Sisters (2010) mit seinen verschlammten Strassen und Schweineställen, dem erbärmlichen Wohnhaus, an dessen offener Feuerstelle die kindlichen Protagonistinnen des Films ihre klammen Schuhe trocknen, ist nicht nur Bild des Schreckens, sondern für Wang auch ein natürliches Ambiente der «gelebten Erfahrung der Existenz der Mädchen», wie er es formuliert hat.
Teilnehmende Beobachtung
Wang privilegiert den Dreh und nicht die spätere Montagearbeit als wichtigsten Schaffensmoment. Er sucht die Nähe zu seinen Protagonist:innen (für Three Sisters lebte er Monate im Dorf unter Verhältnissen, die ähnlich waren wie die im Film dargestellten), will sich von ihnen überraschen lassen, wartet darauf, dass ihr Leben die Geschichte von selbst entwickelt. Er passt den Rhythmus dem Geschehen, den Blickwinkel und die Kamerabewegungen der Handlungsentfaltung an, und seine Tonspur bedient sich fast nur der realen Klangwelt – im Kriegsflüchtlingsdrama Ta’ang (2016) etwa ersetzt das gespenstisch in der Ferne zu hörende Artilleriefeuer das, was im Bild nicht gezeigt werden kann. Trotz der Full Immersion, der teilnehmenden Beobachtung, die den Regisseur fast zum Verschwinden bringt, ist Wangs Präsenz dennoch spürbar, denn sein neutraler und doch staunender Blick ist nicht der eines Protagonisten. Manchmal, selten (!), schauen seine Figuren in die Kamera oder richten sogar ein Wort an ihn, was in der Montage stehen gelassen wird: Puristen des Direct Cinema würden solche Momente herausschneiden, weil es an die Präsenz des Filmteams erinnert. Doch Wang ist so etwas egal, denn er ist kein Dogmatiker. Mehr als eine ideologiegeprägte Ästhetiktheorie führt ihn seine humanistische Haltung.
Eine solche erlaubt ihm auch, die Balance zu finden zwischen dem stets etwas voyeuristischen Bedürfnis des Filmemachens und der Würde einer Sterbenden und ihrer Familie: So in Mrs. Fang (2017), das in Locarno mit dem Goldenen Leoparden bedachte Porträt einer an Alzheimer erkrankten Greisin, das oft minutenlange Bilder ihres Leidens mit denen von Familienmitgliedern alterniert, die mal trauern, sich mal über Alltägliches unterhalten und dann wieder fischen gehen. Diese Schnittfolgen scheinen bei Wang nie erzählerisches Kalkül, sondern sind der Wunderlichkeit des Lebenden und des Vergänglichen geschuldet, die so in die Realität eingeschrieben ist und der Wang Bing mit sensibler und zugleich radikaler Offenheit begegnet.
Besonders bei der Montage ist eine Differenz zu Frederick Wiseman und anderen Verfechtern des Direct Cinema zu spüren. Während bei Letzteren zunächst zufällig erscheinende filmische Beobachtungen sich nach und nach zu einem logischen, rhetorischen Mosaik zusammenfügen, in dem einzelne Szenen ganz klar mit anderen in ein dialektisches Verhältnis treten, spielen solche kalkulierten dramaturgischen Strukturen bei Wang eine untergeordnete Rolle. Bei ihm triumphieren der Moment, der auch mal zehn Minuten ungeschnitten eingefangen wird, der affektive Rhythmus, eine Dramaturgie des Zufalls und der Überraschungen. Wie undogmatisch und adaptiv Wang arbeitet, beweist er auch mit Man in Black (2023), der ganz andere dokumentarische Saiten aufzieht. Hier inszeniert er den 86 jährigen modernen Komponisten Wang Xilin nackt auf einer Theaterbühne: In der ersten halben Stunde fährt die Kamera um dessen Körper herum und erhascht Spuren der Folter, in der zweiten berichtet der Komponist von seiner Verfolgung während der Kulturrevolution, Erzählungen, die wiederholt von seinen eigenen experimentellen Kompositionen übertönt werden.
Humanismus und Politik
Obwohl Wang weit davon entfernt ist, dokumentarische «message pictures» zu drehen, und seine Haltung wie erwähnt immer einer tief empfundenen humanistischen Gesinnung entspringt, ist er dennoch auch eindeutig und dezidiert ein politischer Filmemacher. Er ist ein scharfsinniger und unerbittlicher Chronist der Wunden der Volksrepublik, sei es, wenn es um Opfer vergangener kommunistischer Säuberungsaktionen, sei es, wenn es um Verlierer des spektakulären heutigen Wirtschaftsbooms oder die unhaltbaren Zustände in einer psychiatrischen Anstalt (’Til Madness Do Us Part, 2013) geht. Sein Werk ist ein aufschlussreiches audiovisuelles Archiv volksrepublikanischer Gegenwart und Geschichte, das hoffentlich eines Tages auch von der einheimischen Bevölkerung genutzt werden kann.
Till Brockmann
Till Brockmann lehrt Filmwissenschaft an der Universität Zürich und ist Leiter der Semaine de la Critique am Locarno Film Festival. Daneben arbeitet er auch als Kurator und Filmjournalist.
Das Programm entstand in Kooperation mit dem Stadtkino Basel. Wir danken herzlich für die schöne Zusammenarbeit.