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Inselfilme: Lichtspiele des Mittelmeers

Das Mittelmeer als kultureller Schatz und Sehnsuchtsraum, als Ort der heissen Urlaubstage, des magischen Lichts. Aber auch: eine Region erschüttert durch geopolitische Konflikte, die Flüchtlingskrise und von den Folgen des Klimawandels. Entlang der so zahlreichen wie unterschiedlichen Mittelmeerinseln erzählt Patrick Holzapfel in der von ihm kuratierten Retrospektive die Geschichte dieser Region. Die Filme, die auf Sizilien, Mallorca, Hvar oder Kreta entstanden sind, spiegeln mal dokumentarisch nah, mal poetisch überhöht die mediterranen Lebenswelten der Insulaner:innen wider. Neben so bekannten Namen wie Michael Cacoyannis, Paolo und Vittorio Taviani oder Luchino Visconti verspricht die umfangreiche Retrospektive zahlreiche Entdeckungen und überaus selten gezeigte Filme. Wir freuen uns auf den Vortrag von Patrick Holzapfel über Mallorca und dessen wundersame Werbewelt sowie den Besuch von Helena Wittmann anlässlich ihres neusten Films Human Flowers of Flesh, und besonders auch darauf, das kroatische Filmarchiv mit Raritäten aus seinen Beständen im Filmpodium begrüssen zu dürfen. Wie kaum in einer anderen Region Europas reiben sich am Mediterran die Wirklichkeiten an den Mythen, der Raum an der Zeit, die Lebenslust an den politischen Fatalitäten. Oft als Wiege der nicht nur westlichen Zivilisation bezeichnet, erscheinen die im Mittelmeer verteilten Inseln wie archaische Überbleibsel längst vergangener Lebensformen und empfindliche Marker einer sich rasch verändernden Welt zugleich. Kein Wunder, dass auch die Geschichte des Kinos in dieser Welt aus Duft und Farbe ihre Spuren hinterlassen hat. Schliesslich fühlen sich Filme besonders dort wohl, wo die Zeit anderen Gesetzen gehorcht. Und dort, wo das Licht regiert. Auf Inseln wie Sardinien, Korsika, Cres, Hvar, Malta, Hydra, Kreta, Zypern, Mallorca oder Sizilien berichten die Filmschaffenden vom schweren Leben der Bauern und Fischer, vom Aufwachsen am Meer, von brutalen kriegerischen Konflikten um geografisch wichtige Orte und von den Dramen wie den Komödien der Isolation. Dabei erscheint das Gelände wie ein Schmelztiegel zeitgenössischer Themen: Von Klimawandel über Massentourismus, vom Hass zwischen verschiedenen Religionen bis zur Migrationskrise dient das Mittelmeer nicht nur als Schauplatz dessen, was die Welt beschäftigt, oft stehen diese Themen in einer erstaunlichen Nähe zueinander. Es überrascht nicht, dass der grosse kroatische Schriftsteller Predrag Matvejević den Mediterran einst als Meer der Nachbarschaft bezeichnete. Tatsächlich sieht man in Totalaufnahmen meist ein unbekanntes Land schimmern am Horizont, alles scheint erreichbar, die nächste Insel ist nicht weit, das löst einen Reisehunger aus, eine unbändige Lust am Erzählen und Fantasieren. Wer einmal das Glänzen in den Augen der Bauern gesehen hat, die in Kaos (1984) von den Taviani-Brüdern mit ihren Blicken einem Vogel am sizilianischen Himmel folgen, weiss, wie das gemeint ist. Die wiederkehrende Einstellung von Segelschiffen, die auf Inseln ankommen oder von ihnen abfahren, berichtet von einem ständigen Wechsel aus Anfängen und Enden auf den Mittelmeerinseln. Hier, so bekommt man den Eindruck, beginnt oder endet die Geschichte, dazwischen wird im Sinnenrausch gelebt oder tragisch gelitten.

Südeuropäische Geschichte

Doch das Kino ist nicht unschuldig. Den aufrichtigen Bildern von bedrohten Lebensformen, die beispielsweise die Filme Vittorio De Setas oder Ante Babajas (Lost Homeland, 1980) prägen, stehen unzählige «falsche» Bilder der Tourismusindustrie entgegen, schöne Postkartenmotive und kapitalistische Versprechen einer Erholung vom Alltag, die auf Kosten jener geht, die dort ihr Leben aufgebaut haben. So hat die globale Werbeindustrie längst entdeckt, dass sich alles auf Mallorca verkaufen lässt, vor allem aber Mallorca selbst. Fast scheint es, als wären die Inseln im Besitz dieser (Bilder-)Industrie, die in den Landschaften nur mehr Tourismus erkennt. Das mit der Kultur der Inseln verbundene Begehren nach Freiheit wird erschüttert von Armut, finanziellen Abhängigkeiten und zynischen politischen Systemen, die Zäune um die Küsten errichten, an denen einst Odysseus strandete. Heute würde Odysseus Ithaka nie erreichen, so viel ist klar. Die Mittelmeerinseln sind zurzeit zweifache Destination, einmal für einen Urlaub, einmal für ein besseres Leben. Eine Adaption Homers wie Nostos: Il ritorno (1989) von Franco Piavoli zeigt, wie sehr unsere westlichen Vorstellungen von Schönheit und ethischer Gerechtigkeit an einer Demut vor den Reisenden hängen und vor der Landschaft, von der wir uns ernähren. Von der Kollision des Himmelblau mit dem Schrei der Ertrinkenden, dem Geschmack von Salz in der Luft mit den versiegenden Träumen einer Utopie berichten die Filme der Reihe mal romantisch, mal ironisch, mal wütend, mal sanft, immer ein bisschen wie das Meer, das hier alles bestimmt. Diese Geschichten zwischen Tradition und Fortschritt sind nicht neu, sie prägen den Mediterran seit Anbeginn seiner Geschichte. Dennoch hat sich in den Inselgesellschaften stets etwas gehalten, das der italienische Soziologe Franco Cassano einst den «southern thought» nannte, womit er eine Form der südeuropäischen Zeitwahrnehmung und -geschichte meinte, einen Wertekatalog, der dem des gehetzten neoliberalen Daseins diametral entgegensteht. Bilder von langsam gehenden Menschen, im Schatten schlafenden Kindern, dem genussvollen Schluck Wein, tanzenden, freudigen Zusammenkünften folgen Cassanos Idee und versuchen sich in einer Antinarration zielgerichteter Effizienz. Die Bewegung des Inselkinos ist tatsächlich das mäandernde Irren und Zögern des Odysseus, nicht das plotgetriebene Erzählen und Vorwärtsschreiten, das so vieles im Kino dominiert. So unterschiedlich die Inseln und Kulturen sind, das eint sie: ein gerade noch existierender Hauch, in dem der Gesang von Zikaden das Rattern der Maschinen übertönt. Zumindest möchte man daran glauben. Aber nüchtern betrachtet sind die Werte des Südens längst in die Knie gegangen vor den Bedürfnissen des industriellen Nordens. In den letzten Jahren kam es vermehrt zu Protesten gegen den Massentourismus, trotzdem werden weiter Hotels gebaut.

Momente der Trauer

Die Geschichten und Traditionen der Inseln verschwinden, das Kino leistet einen kleinen Beitrag, an sie zu erinnern, sie zu bewahren. Wer Meerespflanzen filmt wie Helena Wittmann in Human Flowers of Flesh (2022), beweist für die Zukunft, dass es sie gegeben hat. Wer filmt, wie Menschen auf Hydra in den Cafés alte Lieder singen, wie Michael Cacoyannis in seinem A Girl in Black (1956), bewahrt ein Stück Kultur. Allerdings mischt sich ein Moment der Trauer in diese Bilder, denn was man sieht, das, was den Inseln eigen ist, ist stets im Verschwinden begriffen. Nur eines ist gleichbleibend: Das Kino der Inseln wird von der Natur beherrscht, es gibt da kein Entkommen, egal ob die korsische Küste in Flammen steht, die griechischen Inseln erzittern, die Vulkane im Tyrrhenischen Meer brodeln, etwas bewahrt sich unzugänglich und stolz eine Unabhängigkeit vom überall spürbaren menschlichen Eingriff. Pinien, Orangen, Zypressen und Oliven überdauern die Zeit, sie erzählen vom Durst und von der Sonne, und wer die nicht achtet, ist ohnehin verloren in den scheinbar ewigen Sommern. In vielen Filmen erzählt das Licht, das auf eine Weintraube fällt, genauso viel vom Leben wie die Tränen der in den patriarchalen Inselgesellschaften oftmals unterdrückten Frauen. Das ist keine Flucht in eine Naturästhetik, sondern eine Reibung an Lebensformen zwischen Erde und Mensch, deren gegenseitige Abhängigkeit besonders dort virulent wird, wo Menschen von der Erde leben und abhängig sind von den Gezeiten, den Launen des Meeres. In manchen Sequenzen scheint es, als würden das Licht, die Wellen und der unablässig wehende Wind die Filmschaffenden fragen: Welche Geschichten wollt ihr erzählen, welche Menschen wollt ihr zeigen? Gebt Acht, der Schein trügt, hier stammen alle von Abenteurern ab, wie sonst wäre irgendwann irgendwer auf eine Insel gekommen? Die Figuren sind schweigsam, geheimnisvoll oder sie täuschen uns, um zu überleben. Aber ihr Blick ist warm, sie wissen, dass man nur zusammen überlebt, und das Kino lebt noch einmal auf in diesen Welten der Erinnerungen, Friedhöfen, idiosynkratischen Sprachen, unwirtlichen Küsten und immer wieder auch im Blick aufs Meer, von dem Paul Valéry einst schrieb, es sei ein langes Hinschauen auf der Götter Ruhm!
Patrick Holzapfel

Patrick Holzapfel arbeitet als Autor, Filmemacher und freier Kurator. Im Juni 2024 erschien sein Debütroman «Hermelin auf Bänken» bei den Rohstoffen von Matthes & Seitz. Er ist Herausgeber und Chefredakteur von «Jugend ohne Film» und setzt sich dort für literarische Filmkritik ein.