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Phantasiemaschine Kino

Während vieler Jahre war Martin Girod visionärer und umtriebiger Ko-Leiter des Filmpodiums Zürich. Vor 20 Jahren ist er in den wohlverdienten (Un-)Ruhestand getreten. Martin ist unserem Kino aber in all den Jahren mit Rat und Tat auch weiterhin zur Seite gestanden. Nun ist er so richtig zurück mit einem Programm, das die visuelle und narrative Kraft des Kinos jenseits ausgetretener und konventioneller Pfade feiert. Lassen Sie sich verzaubern, betören, verunsichern und beflügeln von Martin Girods Phantasiemaschine Kino. Als besonderes Highlight freuen wir uns, mit Ildikó Enyedi und István Szabó gleich zwei grosse Regiepersönlichkeiten begrüssen zu dürfen, deren Einfallsreichtum und Poesie nicht nur beglücken, sondern auch tiefere Wahrheiten im Licht des Projektors aufleuchten lassen. Kennen Sie dieses Gefühl: Man sitzt im Kino, sieht einen Film und kann – obwohl er brandneu ist – sich des Gefühls nicht erwehren, diesen Film schon mehrfach gesehen zu haben? Dieses Déjà-vu ist die Konsequenz einer Risiken scheuenden Produktionsstrategie, die einmal Erfolgreiches noch und noch kopiert in der (oft trügerischen) Annahme, das Rezept zur Wiederholung des Erfolgs zu besitzen. In unserer Hommage an das Kino als Phantasiemaschine wird es Ihnen bestimmt nicht so ergehen (aber das dürfen Sie im Filmpodium ja ohnehin voraussetzen). Mit der «Phantasiemaschine» sind hier nicht Fantasy- und ähnliche Filme gemeint, die eine phantastische Geschichte mit den altbekannten Mitteln des illusionistischen Kinos erzählen. In diesem Programm feiern wir die gestalterische Phantasie der Regisseurinnen und Regisseure. Jean-Luc Godard wird der Satz zugeschrieben: «Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – nur nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.» Wie so oft verbirgt sich in seinem scheinbar tiefsinnigen Geraune eine Binsenwahrheit. Zugleich führt der Satz aber in die Irre, weil er implizit voraussetzt, dass ein Film eine Geschichte – und genau eine Geschichte – erzählt. Als könne ein Film nicht mehrere Geschichten, ja eine Vielzahl von Minigeschichten erzählen – oder gar keine. Zudem lenkt Godards Satz die Aufmerksamkeit allein auf den dramaturgischen Aufbau. Von da ist der Weg kurz zu den verbreiteten, angeblich allein Erfolg versprechenden Rezepten des «Storytelling», die weitgehend vom klassischen Hollywoodkino abgeleitet sind. Nun hat dieses unbestreitbar eine Menge erfolgreicher Filme hervorgebracht und auch viele zu Recht berühmte Meisterwerke. Aber es geht – das soll dieses Programm vor Augen führen – auch ganz anders. Verlässt man die von Hollywood und seinen Nachahmern ausgetretenen Pfade, erschliesst sich ein weites, äusserst vielfältiges Feld an Ausdrucksformen.

Die Illusion von «Realität»

Ein anderer berühmt gewordener Satz des Meisters aus Rolle – der mit Filmen wie Vivre sa vie und Pierrot le fou in den 1960er-Jahren selbst nachhaltig an den klassischen Filmformen gekratzt hat – trägt ebenfalls zu Missverständnissen bei: Der Film sei die Wahrheit, 24-mal pro Sekunde. Nun fängt die Filmkamera zwar getreulich die sich vor dem Objektiv befindliche äussere Wirklichkeit in 24 Bildern pro Sekunde ein, aber sie verschweigt dabei alles, was hinter dieser Oberfläche und ausserhalb des Bildausschnitts liegt. Die «Wahrheit» ist dabei ebenso eine Illusion wie der Bewegungseindruck, den der Film durch die rasche Abfolge der fixen Einzelbilder erzeugt. Ein in der traditionellen Art konzipierter Film will, dass wir für die Dauer einer Kinovorstellung ganz in die Filmerzählung eintauchen, der Illusion der Film-«Realität» erliegen und darüber vergessen, dass wir im Kino sind. Er nimmt uns wie kleine Kinder an der Hand und führt uns durch seine Geschichte, stimuliert unser Fühlen und Denken in der beabsichtigten Richtung. Das mag sich verführerisch bequem anfühlen, schliesst späteres Nachdenken nicht unbedingt aus, kann aber auch gefährlich manipulativ sein. Die zwölf Spielfilme dieser Reihe, ältere und neuere, sind von erfrischend jugendlicher Frechheit. Indem sie mit ungewohnten Formen überraschen, schenken sie uns zuerst einmal das Vergnügen am Einfallsreichtum. Darüber hinaus aber nehmen sie uns als Publikum ernst. Ihre Regisseurinnen und Regisseure appellieren an unsere Vorstellungskraft und unseren Verstand, im Wissen darum, dass aus dem Gesehenen letztlich immer erst im Kopf der Zuschauenden der Film zu Ende gestaltet wird. Das erfordert eine wache Rezeption – wie jeder Theaterabend, jeder Konzertbesuch, jede Autorenlesung und jede Kunstausstellung. Sie werden für das bisschen investierte Energie mit Sicherheit reich belohnt werden durch das Vergnügen an filmischen Highlights der nicht schon x-mal gesehenen Art. Dabei werden Sie nicht eine Alternative zum standardisierten Film erleben, sondern staunen, wie kreativ immer wieder anders die filmischen Mittel sich künstlerisch nutzen lassen. Die einen konzentrieren sich zwar auf eine Geschichte, doch erzählen sie sie in ungewohnter Chronologie (Peppermint Candy), andere verbinden mehrere Geschichten, die sich erst in unserem Kopf zu einem Ganzen fügen (Mon oncle d’Amérique, Dodeskaden). Fiktive Szenen treffen mit halb dokumentarischen oder echten Dokumenten zusammen (Interview). Vergangenheit und Filmgegenwart vermischen sich in mehreren dieser Werke. Ebenso die Filmrealität mit imaginären Bildern von Träumen, Wünschen oder Verklärungen (Father).

Neue Formen für neue Inhalte

Die Realitätsillusion der fotografischen Bilder wird in den meisten dieser Filme gebrochen. Sei es, indem sie bereits als mediale Vermittlungen dargestellt werden (Tenda dos milagres), sei es dadurch, dass der Film seine eigene Künstlichkeit unterstreicht. Etwa durch unerwartete Farbgebungen oder Musikeinsätze, durch surreale Zuspitzungen (Le fantôme de la liberté) oder das Sichtbarmachen der Inszenierung (West Indies). Diese kleine Aufzählung will nur ein wenig konkretisieren, in welche Richtungen der Aufbruch aus den Konventionen gehen kann. Keines der gezeigten Werke lässt sich einfach einer der skizzierten Strategien zuordnen. Die Stilmittel sind so vielfältig wie die Themen. Aktuelle Gesellschaftsporträts stehen da neben Befragungen der neueren Geschichte, Märchenhaft Subversives neben poetischer Faszination. Gemeinsam dürfte den Autorinnen und Autoren sein, dass ihre Suche nach gestalterischer Freiheit nie L’art pour l’art ist. Ihnen geht es darum, nicht «neuen Wein in alte Schläuche abzufüllen». Dass Filme aus den 1960er- und 1970er-Jahren in diesem Programm einen Schwerpunkt bilden, ist kein Zufall. In einer Zeit des allgemeinen geistigen Aufbruchs haben viele Filmschaffende, die sich nicht mit dem Erzählen unverbindlicher Storys begnügten, für ihr inhaltliches Engagement neue Ausdrucksmittel gefunden. Wenn wir dieses Programm dem Kino als Phantasiemaschine widmen, dann gehen das Ausbrechen aus ausgetretenen Denkpfaden und das Aufbrechen der traditionellen Filmdramaturgie zusammen. Diese «alten» Filme vereinen lustvoll neue Inhalte und neue Formen. Deshalb sind sie erfrischend aktuell geblieben.
Martin Girod

Martin Girod war Ko-Leiter des Filmpodiums von 1993 bis 2005.

Zusatzinformationen: Für die Unterstützung der Reihe und des Besuchs von Ildikó Enyedi und István Szabó danken wir dem Förderverein Lumière.