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Wes Anderson: Symmetrie aus den Fugen

Lustvoll verspielt in ihrer symmetrischen Bildanordnung, pastellenen Farbgebung, extravaganten Settings und durchdacht bis ins letzte Detail – die liebevolle Handschrift von Wes Anderson erkennt man auf den ersten Blick. Und sie ist so ikonisch, dass uns zuweilen sogar Alltagsmomente mit ihren kleineren und grösseren Absurditäten an seine Filmwelten erinnern – Accidentally Wes Anderson! Doch unter der schönen Oberfläche lauert emotionales Chaos, geraten Familien in Nöte und das Erwachsenwerden entpuppt sich als gigantische, kaum zu bewältigende Aufgabe. Das grosse, pralle Leben, verpackt in perfekte Vignetten und Miniaturen, darin liegt die Faszination seiner Filme. Oder wie der Schriftsteller Michael Chabon schreibt: «Dies ist die paradoxe Kraft eines Modells: Ein Kind, das einen Globus in der Hand hält, hat eine direktere, intuitivere Vorstellung von der Grösse und Vielfalt der Erde als jemand, der ein Jahr damit verbringt, die Erde zu umschiffen.» Anlässlich der Premiere von Andersons neustem Streich The Phoenician Scheme begeben wir uns also in den Kosmos voller Wunder von Wes Anderson. Als besonderen Höhepunkt freuen wir uns, Simon Weisse am 12. Juni zu begrüssen, den Schöpfer zahlreicher Modelle und Miniaturen, ohne die die Filme von Wes Anderson nur schwer vorstellbar wären. Kaum fällt sein Name, hat man sofort die Bilder im Kopf: Ben Stiller im knallroten Jogginganzug in The Royal Tenenbaums. Oder ein leuchtend sonniges Indien hinter den verstaubten Zugfenstern des einst mondänen The Darjeeling Limited. Auch den Chefconcierge im verblasst pinken Grand Budapest Hotel. Aber fast nichts erwärmt das Herz mehr als der Auftritt von Edward Norton im verkohlt-braunen Overall als pflichtbewusster Pfadfinderausbilder im kleinstädtischen New England des Jahres 1965 – ihn übertrifft in Moonrise Kingdom allein Tilda Swintons Hexe vom Jugendamt, zugeknöpft im königsblauen Kostüm mit passendem Häubchen im feurigen Haar. Keine Frage, es gibt ihn, den Wes-Anderson-Look. Selbst jene, die sein Werk erst entdecken, glauben bereits eine Vorstellung zu haben, was sich dahinter verbirgt: die strahlenden Farben, gerne Pastell oder knallig. Die kontrastreichen Formen, Muster, Texturen, von klassisch bis kurios. Dazu eine orthogonale Kameraführung mit keinerlei Spielraum für Improvisation. Kurz: ein raffiniert konzipiertes Bühnenbild im Puppenhausstil. Und über allem schwebt ein wohliges Gefühl von Retronostalgie und Melancholie. Im Laufe seiner Karriere hat sich der US-amerikanische Indie-Regisseur mit seinen klaren ästhetischen Visionen und stilistischen Versatzstücken eine Art filmische Visitenkarte zugelegt. Zu den wesentlichen Merkmalen des markanten Designs gehört neben der symmetrisch perfekten Bildsprache das fast schon obsessive Interesse Andersons an historischen Details. Aber der 1969 geborene Texaner ist kein Oberflächenfanatiker. Auch kein Romantiker im herkömmlichen Sinn. Anderson verweigert sich dem bemühten Tiefsinn des Gegenwartskinos, indem er sich dem Zeitgeist mit einer zuwiderlaufenden Sehnsucht entgegenstellt. Das macht sein Kino bei aller stilistischen Strenge im Innern so reizvoll wie im Äusseren: Gewünschte Irritationen, kritische Gedanken und düstere Emotionen sind bei ihm bewusst und subtil im Subtext angelegt.

Schauspiel-Ensemble

In Andersons Regiedebüt Bottle Rocket (1996), einer vergleichsweise recht ungeschliffenen Geschichte um drei überforderte kleinkriminelle Freunde, waren es zunächst nur die Figuren und Situationen, die abwegig wirkten. «Skurril» ist seitdem ein weiterer Begriff, der automatisch mit dem Regisseur gleichgesetzt wird. Tatsächlich drückt sich seine innige Leidenschaft für alles Schräge, Imaginäre und Artifizielle jedoch erst seit dem dritten Spielfilm, The Royal Tenenbaums, ebenso dezidiert auch in der Inszenierung aus. Immer wieder aufs Neue steigerte sich Anderson fortan mit ungenierter Begeisterung in seltsame fiktive Welten hinein, die, so sagt er selbst, stets «fünf Grad von der Realität entfernt» liegen – bei genauer Betrachtung wahrscheinlich noch einen Tick mehr. Bottle Rocket bedeutete auch den Anfang einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen Anderson und seinem Film-Buddy Owen Wilson. Gemeinsam mit seinem Bruder Luke gehört der Schauspieler zu den Gründungsmitgliedern eines stetig wachsenden, engagierten Ensembles von Hollywoodgrössen, das sich für den Regisseur regelmässig in die unglaublichsten Rollen stürzt. Mit von der Partie sind von Billy Murray, Willem Dafoe und Jeff Goldblum über Cate Blanchett, Frances McDormand und Scarlett Johansson neuerdings auch Timothée Chalamet, Benedict Cumberbatch und Tom Hanks. Ein Anderson-Film ohne ihre bekannten Gesichter wäre so undenkbar wie zu leben, ohne zu atmen. Neben dem unverwechselbaren Wiedererkennungswert sind es die sichtliche Freude an der Verwandlung und das lustvolle Spiel mit der Anderson’schen Methode, die die Auftritte der Stars in seinen Filmen so unabdingbar machen. Anschaulich lässt sich das an einem Werk wie The Grand Budapest Hotel aus dem Jahr 2014 illustrieren. Zu diesem Zeitpunkt war Andersons Riege an Stammschauspieler:innen bereits so gross, dass es ein – buchstäblich – grandioses Set-Design brauchte, um alle unterzubringen. Kurzerhand erfand der Regisseur und Drehbuchautor daraufhin gleich ein ganzes fiktives Land, Zubrowka. Die Geschichte um das titelgebende luxuriöse Gästehaus spielt im Europa der Zwischenkriegszeit, als die aristokratische Ordnung zwar bereits bröckelte, aber noch nicht verloren war. Jedenfalls hielt man noch viel darauf. Aber hinter der süssen Fantasie verbirgt sich auch hier ein Gefühl von Trauer und Verlust.

Jenseits der Oberfläche

Dass Anderson bei aller Hingabe zur Vergangenheit immer auf Augenhöhe mit dem Hier und Jetzt steht, offenbart sich längst nicht erst in seinen jüngeren Werken wie dem Sci-Fi-Abenteuer Asteroid City – oder seinem in liebevoll-schroffer Stop-Motion- Tricktechnik animierten Zukunftsszenario Isle of Dogs, der in einem fiktiven, postapokalyptischen Japan spielt. Schon sein zweiter Film, Rushmore, eine stilistisch gewagte Coming-of-Age-Komödie über einen jungen Theatervisionär (Jason Schwartzman), der sich in seine verwitwete Lehrerin (Olivia Williams) verliebt, zeigt einen Regisseur mit Interesse an Selbstreflexion und am Hinterfragen gesellschaftlicher Normen. Doch über die Jahrzehnte haben sich Tonalität und Thematik von Andersons Werken konsequent verdunkelt. Zunehmend finden sich Schattierungen und Graustufen in der filmischen Textur. Als in Isle of Dogs eine Hundegrippe ausbricht, nutzt ein korrupter Bürgermeister die rasch um sich greifende Epidemie, um von den eigenen politischen Problemen abzulenken. Kurzum werden alle Vierbeiner auf eine riesige Mülldeponie verbannt. Umweltverschmutzung, Klimakrise, Rechtsruck, all das ist mit lakonischer Ironie in dieser klugen Fabel angelegt. Ähnlich komplexe und bedrohliche Gedankenwelten tun sich auf, wenn man einen Blick hinter die Kulissen einer exzentrischen Utopie in Pastell wie Asteroid City wirft. Dann wird deutlich: Die schleichende Gefahr durch den Autoritarismus ist dem Regisseur besonders unheimlich. Lieber erträumt sich Anderson deshalb die ihn umgebende düstere Realität mit Atomtests und Aliens, wie er sie sich vorstellt, wenn Künstler wie er die Wirklichkeit malen könnten, wie sie ihnen gefällt.

Hintersinniger Humor

Um das Menschliche im Artifiziellen von Andersons Kunst zu erfassen, darf man ein wesentliches Element seiner Geschichten nicht unterschätzen: Zwar stehen immer höchst verschrobene Charaktere im Zentrum – zumeist hochbegabte Kinder, überforderte Eltern und natürlich (Lebens-)Künstler aller Couleur. Aber so unterschiedlich seine Sujets und Schauplätze auch sein mögen – von riskanten Tiefsee-Expeditionen (The Life Aquatic with Steve Zissou) über das vergangene Zeitungs- und Verlagswesen (The French Dispatch) bis hin zu einem modellierten Fuchsbau (The Fantastic Mr. Fox) – seinen exzentrischen Protagonist:innen begegnet der Regisseur stets voller Respekt und mit einem hintersinnigen Humor, der jede noch so üble Katastrophe oder schwere Sinnkrise erträglich macht. In Andersons neuestem Streich, The Phoenician Scheme, wird es um Spionage und eine zerrüttete Vater-Tochter-Beziehung zwischen Benicio del Toro und Mia Threapleton gehen. Diese Kombination verwundert bei ihm so wenig wie jede andere fiktionale Konstellation. Anderson bleibt sich treu, jetzt erst recht. Vielleicht liegt darin das eigentliche Geheimnis seines Genies. Die zutiefst persönliche Erzählweise, mit der er seinen Fans und Kritikern immer wieder begegnet, ist so originell, dass sie sich nicht imitieren lässt. Zahlreiche Filmemacher:innen haben es versucht und sind kläglich daran gescheitert, weil es eben nur einen wie Anderson geben kann. Und weil seine Arbeiten so viel mehr sind als oberflächliche Unterhaltung. Noch ist die Magie, die er den Bildern einzuhauchen versteht, einzigartig. Sie ist so stark und schön und abwegig zugleich, dass man sich ihrer lebensbejahenden Wirkung nur schwer entziehen kann. Am besten, man versucht es erst gar nicht.
Pamela Jahn

Pamela Jahn ist freie Autorin und Journalistin u.a. für das ray Filmmagazin, die Neue Zürcher Zeitung und Filmbulletin. Sie lebt in London und ist dort auch als Übersetzerin und Filmkuratorin tätig.

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