Nick Cave: Poet of Loss and Ruination
Reduziert und ungeschminkt will Nick Cave in Zürich Mitte Juni in drei Konzerten die Essenz seiner Songs zum Vorschein bringen. Dabei ist Reduktion nicht unbedingt das Schlüsselwort, das einem im Zusammenhang mit Nick Cave als Erstes einfällt. Pathos, Punk und Poesie schon eher. Und dennoch, wenn Nick Cave gemeinsam mit Warren Ellis Filmmusik schreibt, dann zeichnen genau diese Zurückhaltung und ein grosses Vertrauen in das filmische Werk seine Arbeit aus. Für diejenigen, die kein Konzertticket ergattert haben, bringen wir im Filmpodium die vielen künstlerischen Facetten dieses Ausnahmekünstlers zum Klingen: Mit der Vorpremiere von Mutiny in Heaven über Caves erste Band The Birthday Party lassen wir es so richtig krachen, blicken mit der restaurierten Fassung von 20 000 Days on Earth auf seine Philosophie und Karriere und präsentieren mit fünf ausgesuchten filmischen Werken die vielleicht weniger bekannte Seit von Cave als herausragendem Filmmusik-Komponisten und Drehbuchautor. Wie seine Musik bewegen sich auch die Filme, für die er schreibt, am Abgrund. Oft sind es existenzielle Western unter weiten Himmeln. «You’ve gotta just keep on pushing / And push the sky away!»
Der erste Eindruck, es mit einem distinguierten Gentleman zu tun zu haben, verliert sich auf den zweiten Blick. Die schwarzen Haare sind etwas länger, als es die Konvention vorsieht, am weissen Hemd steht ein Knopf mehr offen, als nötig wäre, und an jedem Finger einer Hand schwere goldene Ringe zu tragen, ist für einen gesetzten Herrn auch eher ungewöhnlich. Es fällt allerdings ohnehin schwer, sich Nick Cave als gesetzten Herrn vorzustellen, daran ändert auch nichts, dass er in zwei Jahren siebzig wird. Früher, als junger Bursche, hatte Cave es auch nicht mit dunklen Anzügen und weissen Hemden, da warf er sich noch in Jeans und T-Shirt von der Bühne ins Zuschauergetümmel beziehungsweise riss das Publikum ihn auch des Öfteren kurzerhand von derselben herunter. Als wäre es ein Mob aus Mänaden, die sich auf Orpheus stürzen, ihn zu zerfleischen. Es kann einem dann mitunter ziemlich bange werden um den langen dünnen Kerl, der sich da am Mikrofon festklammert und kreischend und brüllend verausgabt. Einerseits. Andererseits ist es auch Respekt gebietend, mit welcher Bedingungslosigkeit er das tut; und nicht nur er, auch seine Mitmusikanten lassen sich nicht lumpen. Diejenigen, die nicht das Glück hatten, seinerzeit mit dabei zu sein, wenn der Veranstaltungsort explodierte, können nun anhand von Originalaufnahmen im Dokumentarfilm Mutiny in Heaven (Ian White,
2023) die von Überlebenskampf und Drogenexzess geprägten Lehr- und Wanderjahre von The Birthday Party bestaunen, jener legendären Postpunk-Band, mit der Nick Cave berühmt wurde. Als sie 1984 in einem Leerlauf aus Erwartungsdruck und Erschöpfungszwang schliesslich einging, wurden Nick Cave & the Bad Seeds geboren, zu denen unter anderen (bis 2003) Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten zählt sowie (seit 1994 bis heute) Warren Ellis. Ellis und Cave fordern einander auf intuitive Weise heraus, sie bringen im je anderen neue Saiten zum Klingen; besonders fruchtbar wird dieses artistische Einverständnis auf dem Feld der Filmmusik, zu dem die beiden mittlerweile zahlreiche beeindruckende Kompositionen beigetragen haben.
Zügelloses Multitalent
Nick Cave ist ein Universalkünstler aus Australien, er ist nicht nur ein Singer-Songwriter, der sich zu den traurigsten Liedern der Welt am Klavier begleitet; er schreibt auch Gedichte, Romane, Drehbücher, tritt in Filmen auf und, ja, töpfert. Geboren wurde er am 22. September 1957 in Warracknabeal, Victoria, und ist mit drei Geschwistern als Sohn einer Bibliothekarin und eines Englischlehrers in geordneten Verhältnissen aufgewachsen. Als er dreizehn ist, wird er auf ein Internat in Melbourne geschickt, im Anschluss an die Schule beginnt er ein Kunststudium, das er bald hinschmeisst, um sich der Musik zu widmen. Die New-Wave-Band Boys Next Door entsteht, Caves Leben wird (noch) wilder und gefährlicher, die Drogen machen sich breit. 1980 übersiedelt die Band als The Birthday Party nach London, später macht sie Berlin unsicher, wo zu jener Zeit tatsächlich noch der Bär tobt. Die Drogen machen sich breiter, vielen bekommt das nicht gut, Cave kratzt zum Glück die Kurve. Immer mehr entwickelt er sich zu einer ikonischen Figur beziehungsweise entwickelt Cave seine Bühnenpersona zu einer Ikone. Ersichtlich wird das in 20 000 Days on Earth (Iain Forsyth, Jane Pollard, 2014), einem ebenso abwechslungs- wie aufschlussreichen und mit viel Humor und Finesse dargebotenen künstlerischen Manifest. Darin lädt uns ein Mann namens Nick Cave ein, mit ihm seinen zwanzigtausendsten Tag auf Erden zu verbringen; er nimmt uns sogar mit zu seinem Psychiater. Als dort die Rede auf den Tod des Vaters 1978 bei einem Autounfall kommt, bricht die Szene ab. An anderer Stelle aber schreibt Cave über das einschneidende Ereignis: «The loss of my father created in my life a vacuum, a space in which my words began to float and collect and find their purpose.» In seinen Texten beschäftigt sich Cave, anglikanisch erzogen und als Kind Mitglied des Kirchenchors, mit Gott und dem Teufel, mit Gut und Böse, Licht und Finsternis, mit Schmerz, Gewalt und Tod; die manichäisch klaren Verhältnisse, die das alltägliche Leben so sehr vermissen lässt, prägen das Cave’sche Song Universum – singend, musizierend, schreibend arbeitet er sich ab an den grossen Fragen: an der nach dem Sinn des Ganzen und an der nach der eigenen Bedeutung darin. Insofern Cave eine altmodische Auffassung vom Künstlertum vertritt, ist er auch kein Showman, für den das Entertainment und damit letztlich die Ablenkung an erster Stelle steht. Vielmehr sieht er sich als Vermittler von Erkenntnissen aus seinem Nachdenken über die Welt.
Filmmusikalische Kollaborationen
Eine Entsprechung findet diese Haltung auch in Caves filmmusikalischen Kollaborationen bevorzugt für Genres, in denen existenzielle Konflikte gestaltet sind und/oder klare Oppositionen herrschen. Für seine Songs wie für seine Scores gilt der Wahrheitsanspruch, demzufolge: Drama und Tragödie statt Komödie und Romantik. Sein filmisches Werk setzt in den späten 1980er-Jahren mit John Hillcoats dystopischem Debütfilm Ghosts … of the Civil Dead (1988) ein, zu dem Cave nicht nur als Drehbuchautor und Komponist kreativ beisteuert, sondern in dem er auch die Rolle eines derangierten Gefängnisinsassen übernimmt. Zur nächsten Zusammenarbeit der beiden Landsleute kommt es erst wieder Mitte der 2000er-Jahre, als Hillcoat Caves erstes Solo-Drehbuch verfilmt: The Proposition (2005) sorgt für Furore, weil er nichts beschönigend beziehungsweise schonungslos brutal von der Kolonisierung Australiens und von den harschen Verhältnissen im Outback erzählt. Zugleich markiert diese beständig zwischen Grausamkeit und Zärtlichkeit flirrende Geschichte eines Brudermordes den Beginn des filmmusikalischen Duos Nick Cave und Warren Ellis. Die spezifischen Merkmale ihrer Scores werden hier erstmals ausgeprägt. Die Musik dient nicht als Zuschauer-Emotionen steuernde Begleitung, die hintergründig und heimtückisch ihr manipulatives Werk verrichtet. Stattdessen setzt die Musik Zäsuren; zwischen den Sequenzen, narrativen Einheiten, erklingt Ellis‘ Violine und entwirft tief melancholische Melodien, als würde sie Kapitelüberschriften setzen. Täuschend beiläufig bauen Synthesizer Drone-Wände auf, um sich, als auf der Handlungsebene die Eskalation unaufhaltsam näher rückt, mit plötzlich einsetzenden E-Gitarren-Riffs und Schlagzeug-Krawall in eine Kakofonie zu stürzen, die den beteiligten Bad Seeds alle Ehre macht. Mitunter gesellt sich – wie in Wind River (Taylor Sheridan, 2017) – Caves Stimme zu den Bildern, fügt – hier dem eisigen Wind, der durchs winterliche Reservat pfeift – ein Raunen hinzu zwischen Trost und Drohung und verrückt das Geschehen ins Metaphorisch-Transzendente. Dann wieder sind es – wie im gesellschaftskritisch zu lesenden Neo-Western Hell or High Water (David Mackenzie, 2016) – die dem eigenen Score beigesellten Exempel der US-amerikanischen Singer-Songwriter/Country-Tradition, die dieser in wirtschaftlicher Krise angesiedelten Geschichte ihre historische Dimension geben. Während es in The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford (Andrew Dominik, 2007) eine von Cave gespielte Celesta ist, deren ätherische, an Glockenspiel erinnernde Töne aus einer Fussnote der Geschichte eine lyrische Elegie von überzeitlicher Bedeutung werden lassen. Übrigens hat Cave gegen Ende des Films einen kleinen Auftritt und singt in einer Bar den 1882 von Billy Gashade geschriebenen Song «The Ballad of Jesse James». Vergleichsweise sinfonisch fällt aus, was Warren Ellis «featuring Nick Cave» zum so minimalistischen wie spektakulären Dokumentarfilm La panthère des neiges (Marie Amiguet, Vincent Munier, 2021) einfällt. Es kommt hier zu einer glückreichen Koinzidenz von filmischer und musikalischer Botschaft: Der Respekt vor der Schöpfung artikuliert sich in Bildern und Tönen gleichermassen; Schönheit, Pathos und Schrecken fallen in eins. Als wäre dieser Film einer jener Songs, die, so Cave, während ihrer Entstehung wie wilde Tiere seien, an denen auch er sich nur festklammern könne, «holding on for dear life». Und dann der erhabene Moment des Gelingens.
Alexandra Seitz
Alexandra Seitz ist freie Autorin und Filmkritikerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien.