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Sarah Maldoror: Poesie und Militanz

Der Befreiungskampf in Angola, der Karneval auf den kapverdischen Inseln oder eine Gemeinschaft Schwarzer Strassenfeger in Paris, Sarah Maldoror (1929 – 2020) war eine Pionierin des afrikanischen wie afrodiasporischen Kinos und eine bewusst politische Filmemacherin im Wirkungskreis der antikolonialen Bewegung. Ihr (kultur)politisches wie filmisches Engagement schöpft auch aus so wichtigen Strömungen des 20. Jahrhundert wie aus dem Surrealismus, der Négritude, dem Panafrikanismus, Feminismus und Kommunismus. Trotz aller Militanz bewahrt sich ihr Kino einen dezidiert poetischen Ansatz, der eine ungemeine Kraft entwickelt. Sarah Maldoror drehte mehr als 40 Lang- und Kurzfilme, und in sechs Programmen präsentieren wir zum ersten Mal in Zürich eine umfassende Werkschau ihres Schaffens. Wir freuen uns zudem sehr, am 25. August Henda Ducados zu begrüssen, die sich zusammen mit ihrer Schwester Annouchka de Andrade, um das Erbe ihrer Mutter kümmert. In grellem Sonnenlicht treiben Uniformierte eine Gruppe Männer von der Ladefläche eines Lastwagens zu einem Kellereingang. Einer der Gefangenen darf seine Frau zuvor noch einmal sehen. In der Umarmung flüstert sie ihm zu: «Ich hole dir ein complet.» Die Frau meint ein typisches Gericht der Armenviertel von Luanda in Angola, doch der Polizist vor der Tür vermutet Verdächtiges und führt den Mann schnell zurück in den Keller in Polizeigewahrsam. Pflichtbewusst erstattet er seinem Vorgesetzten, der unter einem Porträt des portugiesischen Diktators Salazar sitzt, Bericht. Sarah Maldorors erste eigene Regiearbeit Monangambééé (1967) zeigt ein koloniales Missverständnis, aus dem Folter und Unterdrückung folgen.

Monangambééé ist die Verfilmung einer Erzählung des portugiesischen Unterstützers der angolanischen Unabhängigkeitsbewegung José Luandino Vieiras. Der Titel des Films greift einen Ruf auf, der während der angolanischen Unabhängigkeitsbewegung zu Versammlungen rief. Entstanden ist der Film in Algerien, mit Unterstützung der algerischen Befreiungsbewegung FLN und zahlreicher algerischer Filmschaffender (der Regisseur und Schauspieler Mohamed Zinet spielt den Polizisten vor der Tür). Die Kulturpolitik Algeriens bestand in den ersten Jahren nicht zuletzt darin, sich als Zentrum des Panafrikanismus zu sehen. Als der Film im November 1969 in Algiers aufgeführt wird, sind die Reaktionen gemischt: «Man hat mich beglückwünscht, aber man hat mir auch die Schönheit des Films vorgeworfen», berichtet Sarah Maldoror, als der Film ab Frühjahr 1970 die europäischen Filmfestivals erobert.

Zuvor hatte Sarah Maldoror in Paris Mitte der 1950er-Jahre die Schwarze Theatergruppe Les Griots gegründet. Dann ging sie nach Moskau, um Film zu studieren, bevor sie mit ihrer Tochter und ihrem Partner Mário Coelho Pinto de Andrade, der 1956 die angolanische Befreiungsbewegung MPLA mitgegründet hatte, erst nach Marokko (wo ihre zweite Tochter geboren wird) und später nach Algerien übersiedelte. In Algerien wirkte sie an Gillo Pontecorvos La battaglia di Algeri (1966) mit und war Regieassistentin bei Ahmed Lallems Elles (1966), bevor sie an eigenen Filmen zu arbeiten begann. Gleich mit ihren ersten beiden Filmen war Sarah Maldoror auf Festivals in aller Welt vertreten. Sowohl Monangambééé als auch ihr zweiter (und heute einziger überlieferter) Langfilm Sambizanga (1972) gewannen Preise auf den Journées cinématographiques de Carthage. Beide liefen im Forum der Berlinale, Monangambééé zuvor sogar in Cannes, in der Quinzaine.

Schwarze Selbstbestimmung

«Ich nahm ein Taschenmesser, dessen Klinge eine scharfe Schneide hatte, und schlitzte das Fleisch auf, wo die Lippen sich berühren. Für einem Moment dachte ich, ich hätte mein Ziel erreicht.»

Bei einem Auftritt kurz nach dem Tod ihrer Mutter im April 2020 ruft Sarah Maldorors ältere Tochter Annouchka de Andrade in Erinnerung: «Sarah Maldoror ist bekannt als Filmemacherin und Militante, aber das ist eine zu reduzierte Sicht darauf, wer sie wirklich war. Noch bevor sie Filmemacherin, Frau und Mutter war, war Sarah eine zutiefst poetische Person.» Diese poetische Seite findet sich schon in dem Künstlerinnennamen, den sie sich in den 1950er-Jahren zulegt. Der Nachname Maldoror entstammt einem in den 1860er-Jahren geschriebenen Langgedicht (aus dem auch das Zitat oben stammt) des in Uruguay geborenen französischen Poeten Comte de Lautréamont. De Lautréamonts Protagonist bricht radikal mit bürgerlicher Moral und wurde von den französischen Surrealisten zu einem Wahlvorgänger erhoben.

Eine der vielen Facetten der Radikalität von Sarah Maldoror besteht darin, kompromisslos auf einer poetischen Seite der Militanz bestanden zu haben – auch und gerade dann, wenn diese Kritik auf sich zog. Neben Elementen der visuellen Gestaltung wie dem harten Schwarz-Weiss in Monangambééé wird sich diese Seite später auch in der Wahl der Themen von Maldorors Filmen zeigen. Sie dreht Filme über den Surrealisten Louis Aragon, über den Dichter und politischen Denker Léon G. Damas und immer wieder über Aimé Césaire, dessen Theaterstücke sie schon mit ihrer Gruppe in Paris inszeniert hatte.

In Maldorors frühen Filmen aber ist diese Insistenz auf die Poesie entscheidend für die Wahl der Filmmusik. In Monangambééé stammt sie vom Art Ensemble of Chicago, einer Gruppe von Jazz-Avantgardisten. Auch in Maldorors heute vermutlich verlorenem, erstem Langfilm Guns for Banta, kurz nach Monangambééé in Algerien entstanden, hätte die Filmmusik Jazz sein sollen. Neben dem Fokus auf Frauen war es – so erinnert sich Annouchka de Andrade – die Wahl der Filmmusik, die den Film über die Befreiungsbewegung in Guinea-Bissau auf Kritik bei den algerischen Produzenten stossen liess. Maldoror musste Algerien innert 48 Stunden verlassen. Annouchka de Andrade kommentiert die Vorliebe für Jazz mit den Worten: «Jazz war sehr wichtig für sie. In ihm erkannte sie etwas sehr Tiefes, das mit Freiheit in Bezug stand. Jazz war eine politische Haltung.» Wie bedeutend die Tonspur für die Positionierung von Filmemacher*innen der 1960er war, wird heute oft überhört, weil uns viele der Soundtracks wie gewohnte Avantgarde erscheinen. Sarah Maldorors Entscheidung für Jazz als Filmmusik ist ebenso prägend, wie es etwa zeitgleich Ennio Morricones Musik für den europäischen Film war – nicht zufällig stammt auch die Filmmusik zu Pontecorvos La battaglia di Algeri von Morricone.

1987 dreht Maldoror in Miami eine Konferenz zur Négritude, die Aimé Césaire als Ehrengast hat. Césaire hatte den Begriff der Négritude als politischen Begriff Schwarzer Selbstbestimmung Mitte der 1930er-Jahre geprägt. Aimé Césaire – Le masque des mots ist neben einer Hommage an einen von der Filmemacherin geschätzten politischen Poeten ein Film über den Widerhall von Poesie. Gegen Anfang rezitiert Maya Angelou ein Gedicht Césaires. Während sie liest, wird ihre Lesung von einer anderen überlagert, beide Lesungen finden in Bildern einer Kanallandschaft Floridas einen Resonanzraum. Schon davor ist ein Gedicht Césaires auf Bilder Miamis geprallt. Maldoror zeigt in Le masque des mots, wie die Poesie Césaires unter Schwarzen Intellektuellen widerhallt, macht damit sichtbar, wie das Werk des Schriftstellers eine ganze Generation geprägt hat.

Unabhängigkeit des afrikanischen Kinos

Maldorors einziger heute überlieferter Langfilm Sambizanga zeigt einen Bewusstseinsprozess ganz anderer Art im Rahmen einer Geschichte aus den Anfängen der angolanischen Unabhängigkeitsbewegung. Wie Monangambééé adaptiert der Film eine Erzählung José Luandino Vieiras. Ein Grossteil der Darsteller entstammte verschiedenen afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen. Der Unabhängigkeitskämpfer Domingos Xavier wird verhaftet. Im Gefängnis (das in jenem Ortsteil Luandas liegt, der dem Film den Titel gegeben hat) wird er gefoltert. Seine Frau Maria (verkörpert wie die Frau des Gefangenen in Monangambééé von Elisa Andrade) macht sich auf in die Stadt, um ihren Mann freizubekommen, während parallel die Befreiungsbewegung beginnt, Form anzunehmen.

Marias Weg ist auch metaphorisch zu verstehen. In einem Text zu dem Film schrieb Maldoror Anfang der 1970er-Jahre: «In Sambizanga wollte ich vor allem die Einsamkeit einer Frau zeigen sowie die Zeit, die man zum Marschieren braucht.» Der Film ist gleichermassen filmisches Dokument einer Selbstbehauptung wie Hommage an die Opfer, die die Unabhängigkeit gefordert hat, an die Rolle von Frauen in den Befreiungsbewegungen und eine eindrückliche Darstellung des beständigen solidarischen Handelns, das die Kolonialherrschaft an ihr Ende brachte.

Sarah Maldorors Kino gilt der Veränderbarkeit der Welt – durch Befreiungsbewegungen ebenso wie durch Poesie und Film. Vor allem aber auch durch eine Dekolonisierung der materiellen Grundlagen der Filmproduktion. Maldorors Text zu Sambizanga endet mit einem Appell für die Unabhängigkeit des afrikanischen Kinos: «Das Wichtigste ist, dass wir eine Kulturpolitik entwickeln, die uns dabei helfen kann, der Welt zu zeigen, dass es so etwas wie das afrikanische Kino gibt. Wir müssen uns beibringen, unsere Filme selbst zu verkaufen, um sie dann zu vertreiben. Heute sind wir wie kleine Sardinen, die von Haien umgeben sind. Aber die Sardinen werden erwachsen werden. Sie werden lernen, sich den Haien zu widersetzen.» Sarah Maldorors Kino hallt bis heute umso eindringlicher fort, weil die ästhetische wie politische Intention ihres Kinos bis heute nicht vollständig eingelöst wurde.
Fabian Tietke

Fabian Tietke ist Filmkritiker und Programmgestalter von Filmreihen in Berlin.