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Vitaly Mansky: Film als demokratisches Engagement

Vitaly Mansky ist ein begnadeter Beobachter und Fragesteller. Sein filmpolitisches Schaffen versteht er als gesellschaftlichen Auftrag und als demokratischen Beitrag. In seinen rund 40 Regiearbeiten hat Mansky sich mit politischen Systemen, geografischen Verwerfungen, gesellschaftlichen Bewegungen und Biografien vor allem in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion auseinandergesetzt. Seine präzise Kamera richtet sich auf einfache Menschen, findet aber auch den Zugang zu den obersten Machtkreisen. In Gorbachev. Heaven etwa widmet er dem grossen Politiker ein feines, vielschichtiges Porträt – während er in seinem zentralen Werk Putin’s Witnesses scharfsichtig den Weg des Autokraten Putin in den Kreml nachzeichnet und (auch) seine eigene Zeugenschaft hinterfragt. Vitaly Mansky, der viele Jahre in Russland lebte und arbeitete, befindet sich seit 2014 im lettischen Exil. Seiner bedrängten Heimat Ukraine hat er vier Filme gewidmet. Mit Time to the Target, dem aktuellen Werk, begibt sich Mansky in seinen Geburtsort L’viv und hält dort präzise die Auswirkungen und Einschläge des Zermürbungskrieges fest, den Russland gegen die Ukraine führt: Das Filmpodium präsentiert im Rahmen der ersten grossen Retrospektive von Manskys Werk in der Schweiz auch die Premiere von Time to the Target und lädt am 6. Oktober zur Begegnung mit dem aussergewöhnlichen Filmemacher. Sein Œuvre ist so umfangreich wie sein visuell- anthropologisches, geografisches und politisches Interessensspektrum breit gefächert, weshalb es gar nicht so einfach ist, die Gemeinsamkeiten, die Eigenheiten oder gar eine Handschrift von Vitaly Manskys filmischen Arbeiten genauer herauszudestillieren. Mansky, Jahrgang 1963, wuchs im sowjet-ukrainischen L’viv auf, erlebte die grauen Ausläuferjahre der UdSSR ebenso wie die Perestrojka-Stimmung in der Hauptstadt Moskau, machte in Jelzins Russland Karriere, setzte sie bei stetigem internationalem Erfolg unter Putin fort, kehrte seiner Wahlheimat 2014 im Zuge der russischen Krim-Annexion schliesslich den Rücken und lebt und arbeitet seither im lettischen Riga. Seit knapp vier Jahrzehnten stehen Dokumentarfilme im Zentrum seines künstlerischen Wirkens. Er konzipiert sie, dreht sie, führt Regie, produziert sie (meist gemeinsam mit Gattin Natalia Manskaya). Zudem erfand Mansky ganze Non-Fiction-Programmreihen für die russischen Fernsehsender der neunziger und nuller Jahre, und noch heute zeigt und promotet er Dokumentarfilme: als Gründer und Präsident des ArtDocFest, eines internationalen Dokumentarfilmfestivals, das von 2007 bis 2019 in der Russischen Föderation und seit 2014 zunächst parallel, später nur noch in Riga stattfindet und seit Kurzem auch in zahlreichen Regionen der ehemaligen Sowjetunion Gastauftritte feiert. Als er 2017 Artdoc.Media lanciert, die weltweit grösste Streamingplattform für (lizensierte) Dokumentarfilme des Ex-UdSSR-Kulturraums mit (unzensierten) Inhalten, ist das ein weiterer Schritt der Forcierung einer liberalen, antidiktatorischen medialen Öffentlichkeit für den Dokumentarfilm, jene Gattung, die für Mansky wohl am genuinsten mit dem ästhetischen und politischen Auftrag des Filmemachens verbunden ist. Das engagierte Eintreten für sein Festival, für dessen zahlreiche Partner (Kinobetreiber:innen, Medienvertreter:innen, Festivalarbeiter:innen etc.) und renommierte Gäste im zunehmend autoritären Russland stellt innerhalb der (kultur)politischen Grabenkämpfe im gesamten östlichen Europa einen unschätzbaren Wert für die Demokratiebewegung dar – wider den Druck, die Zensur und die administrativen sowie schliesslich die legalen Hindernisse, die auch gegen ihn persönlich ins Spiel gebracht wurden – von gezielten medialen Schmutzkampagnen inklusive Diffamierung als «ukrainisch-jüdischer Abschaum» bis hin zur «Ernennung» zum «ausländischen Agenten» («inoagent») 2023. An Manskys europäischem Kurs und seinem Eintreten für die ukrainische Film-Community in Form eines Offenen Briefes 2014 stiessen sich im zunehmend nationalpatriotischen Klima Russlands politische Würdenträger und Kulturgrössen – wie Ex- Kulturminister Vladimir Medinski, der einen Bann der staatlichen Subventionen für mit dem ArtDocFest assoziierte Projekte erliess, oder «Film-Zar» Nikita Michalkov, der ehemalige «Grosse Vorsitzende» des Film-Verbandes. Mansky tritt konsequent gegen den Angriffskrieg Russlands ein – und setzt verschiedentlich Zeichen gegen den Staatsterror jenes Landes, von dem sich mittlerweile Millionen von Zivilbürger:innen, darunter zahlreiche künstlerisch und kulturell tätige Menschen, verabschiedet haben. Politische Systeme zu analysieren, diskursive Landschaften zu vermessen, gesellschaftliche Bewegungen zu beobachten, Grenzbereiche zu ertasten, biografische Lebensläufe zu erforschen, die eigene Wahrnehmung und Haltung darin zu befragen – das sind die zentralen Leitlinien von Vitaly Manskys Regiearbeiten.

Mediator, Vermittler, Fragesteller

An die 40 Filme sind in den knapp 40 Jahren seit seinem Kamerastudium am Moskauer VGIK entstanden. Es sind, mit einer Ausnahme, ausschliesslich Dokumentarfilme, «real’noekino», «real cinema». So hiess auch das erfolgreiche Programm mit international herausragenden Dokumentarfilmen, das er für das russische Fernsehen konzipiert hatte, bevor es 2018 zur «ausländischen Propaganda» erklärt und abgesetzt wurde. Den internationalen Durchbruch feierte Mansky mit Bliss (1995), einer ruhigen, ländlichen Beziehungsstudie. Das herausragende Werk der frühen Jahre aber ist Private Chronicles. Monologue (1999), ein Found-Footage-Film aus einer Vielzahl privater Amateuraufnahmen unterschiedlicher Familienarchive, montiert zu einer fiktiven «Durchschnittsbiografie des sowjetischen Menschen» von 1961 bis 1986, mit grosser Musik von Aleksey Aygi. Ein früher Baustein in einem Œuvre, das das Politische nie jenseits des Privaten (und umgekehrt) sah, sondern stets in der Verschränkung. Ein Essay in kultureller Verständigung, wofür er prädestiniert scheint. Mansky ist Mediator, Vermittler, Kommunikator. Und: begnadeter Beobachter und Fragensteller – egal ob er seinen Familienmitgliedern oder unbekannten Menschen gegenübersteht, in Kuba etwa (Patria o muerte, 2011) oder in Nordkorea (Under the Sun, 2015), am Schwarzen Meer (Broadway. The Black Sea, 2002) oder entlang des Baus der Transsibirischen Pipeline (2013). Selbst zu den grossen Polit-Kalibern des Kremls hat er Zugang gefunden, wie etwa zu Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Gorbachev. Heaven ist die im Detail aufschluss- und kenntnisreiche, politisch weite Bögen schlagende Antwort auf Werner Herzogs «Gorbi-Film». Mansky gelang ein überaus nachdenkliches Porträt des Wegbereiters für das Ende des Kalten Krieges. Zwei Jahre später verstarb Gorbatschow – ein halbes Jahr nachdem Vladimir Putin den Befehl zum Grossangriff Russlands gegen die Ukraine gegeben hatte. Dass Mansky in Putin. Leap Year (2001) auch diesen Potentaten aus der Nähe porträtiert hat, ihm durch die Hinzuziehung einer besonderen Protagonistin (der Grundschullehrerin des späteren Herrschers nämlich) ein menschliches Antlitz verpasst hat und damit intellektuellen Putin-Kritikern gewissermassen die Zweifel austrieb, nahm ihm so mancher übel. Putin’s Witnesses (2018) setzt sich damit als Selbstbefragung direkt auseinander, ein zentraler Film, der die eigene Involviertheit ebenso kritisch reflektiert wie den Anteil der medialen Repräsentation an der politischen Geschichte des postsowjetischen Russland. Fast ein Akt der Reue, treibt der Film auf die Spitze, was Mansky in einem Interview als den Kern seiner filmischen Arbeit bezeichnet hat: «eine Art politisch-soziale Anthropologie».

Eastern Front

Stets kommt Mansky auf von ihm selbst gelegte Fährten zurück – und blickt weit voraus. Was ihn interessiert, sind Menschen und Systeme und das, was sich dazwischen ereignet, sich als ideologische Ablagerungen oder schlicht als Lebens(ver)lauf zeigt. Themenfelder wie die Einflusszonen des Kommunismus auf den Alltag werden sichtbar, ebenso politische, soziale und geografische Hierarchien. Er ist am Puls der Zeit, Post (1990) über den Berg-Karabach-Krieg und nicht zuletzt alle vier Filme, die sich der Ukraine widmen – Gagarin’s Pioneers (2005), Close Relations (2016), Eastern Front (2023) und Time to the Target (2025) –, zeugen davon. Mansky hört genau hin, wenn es um die sowjetische Vergangenheit geht, um geplatzte Träume oder die Revision von historischen Ereignissen, die über Biografien entscheiden. Besonders deutlich wird das in Close Relations, in dem er den zur Tagespolitik gewordenen russisch-ukrainischen Grenzverlauf innerhalb seiner eigenen Familie erkundet. Trotz Schwere und Komplexität des Themas ist das ein hochsensibler Film, der von Glück und Unglück wie von Diskriminierung und Dominanz erzählt. Und vom so unwahrscheinlichen neuerlichen Kriegsbeginn. Eastern Front, gemeinsam mit Yevhen Titarenko im Jahr nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine realisiert, ist gleichzeitig Frontbericht aus der Perspektive eines Sanitätsbataillons und Nachdenken über den Krieg: verstörend roh und doch aufklärend, empathisch und sachlich. Ein Film, der hautnah zeigt, wie eine Nation ums Überleben kämpft. Die Schweiz-Premiere von Time to the Target schliesslich ist schon ein leises Requiem für die vielen verlorenen Leben in drei Jahren aufgezwungenen Kriegs. Mansky ist dabei nach einem halben Leben im Zentrum der Macht zurück in seiner Heimatstadt. Peripherie für die einen, Herz des Empfindens für andere.
Barbara Wurm

Barbara Wurm ist Kuratorin, Kulturwissenschaftlerin und Filmexpertin mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Seit 2024 leitet sie das Forum der Berlinale.