Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück
Ortsbesuche: Franjus frühe Dokumentarfilme | Kurzfilmprogramm

Georges Franju Filmkarriere beginnt mit poetisch-dokumentarischen Ortsbesuchen: der Reise durch die Pariser Metro, die er zusammen mit Henri Langlois realisierte, der Wanderung durch die Landwirtschaft- und Industriegebiete Lothringens oder zu den Nebeln des Weltalls, mit denen sein filmisches Gedicht über den Staub Les poussieres anfängt. In seinem wohl berüchtigtsten Kurzfilm Les sang des bêtes geht Franju in die Pariser Schlachthäuser vor den Toren von Paris, um dem Töten der Tiere zuzusehen. Der Filmkritiker Amos Vogel hat es «eines der grossen Meisterwerke des subversiven Films» genannt, das sogar das Zerschneiden des Auges in Un chien andalou von Luis Buñuel übertreffe, denn die Zerstörung des Auges war fiktiv, das Blut der Tiere hingegen Wirklichkeit. Die Wirklichkeit einer anderen Schlachterei, jener des Krieges, nimmt Franju kurz darauf mit Hôtel des Invalides in den Blick: Der Film beginnt mit den blitzenden Rüstungen und Schwertern im Museum und endet auf den zerstörten Gesichtern der Weltkriegsveteranen (dieselben Kriegsversehrten, die auch zu den Glasaugen in Henri Storcks Pour vos beaux yeux greifen müssen). Die thematischen und visuellen Obsessionen, denen Franju in seinen Spielfilmen nachgeht, sind hier alle schon versammelt, mit heftigster Intensität. (Johannes Binotto)

Gesamtdauer: 103 Min.

Programm

Georges Franju, Henri Langlois (Frankreich 1935)

«1934 waren Henri Langlois und Georges Franju 20 bzw. 22 Jahre alt. Sie hatten noch nicht (...) die Cinémathèque française (1936) gegründet und auch nicht den Cercle du cinéma, einen Filmclub in der Avenue des Champs-Élysées (1935). (...) Eines hingegen steht zu diesem Zeitpunkt bereits fest: Beide sind leidenschaftliche Cineasten, die seit den 1920er-Jahren von der noch neuen Kunstform Film gefesselt sind, die zwar bis 1929 ‹stumm› war, aber ihrer Meinung nach gerade deswegen so ausdrucksstark und erfinderisch. So wird Le métro, ein fast amateurhafter Kurzfilm, ein Film-Essay, (...) nicht nur stumm, sondern auch vollständig von den stillen Avantgarden inspiriert sein: Walter Ruttmann (Berlin, Symphonie einer Grossstadt), Lucie Derain (Harmonies de Paris), Germaine Dulac (La coquille et le clergyman), ohne eine ebenso suggestive populäre Seite zu vergessen (Louis Feuillades Fantômas). Le métro ist ein jugendliches Loblied auf das mechanische Zeitalter (elektrische Züge und Rolltreppen), das Spiel von Licht und Schatten, die Linien und die Geschwindigkeit. Kurzum, es ist eine naive und aufrichtige Eloge auf die Kräfte des Kinos, dieses modernen Gottes der Bewegung.» (Bernard Benoliel, cinematheque.fr)
«Ich hatte weder bei meinem ersten Kurzfilm noch bei meinem ersten Spielfilm, nicht bei der ersten Sekunde und auch nicht davor nur die geringste Befürchtung, den geringsten Zweifel. Bei der Ausübung meines Berufs hatte ich nie ‹Lampenfieber›, und noch weniger, obwohl ich von Ängsten geplagt bin, Angstzustände. Vielmehr scheint meine Arbeit auf meinen chronischen depressiven Zustand therapeutisch zu wirken – ein Wunder. Da sie mein Ausdrucksmittel ist, ist sie meine Daseinsberechtigung.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)


Drehbuch: Georges Franju, Henri Langlois
Kamera: Georges Franju, Henri Langlois
Schnitt: Georges Franju, Henri Langlois

8 Min., sw, DCP, stumm


Georges Franju (Frankreich 1949)

«Le sang des bêtes ist ein Dokument über den Pariser Schlachthof in La Chapelle. In aller Sachlichkeit verfolgt die Kamera das Geschehen und macht uns zu Kompliz/innen der Grausamkeit. ‹Wenn man dieses dampfende Blut und die in Exkrementen watenden Männer sieht, kann man nicht umhin, an Vietnam und Konzentrationslager zu denken. Das Blutbad in den Schlachthäusern wird zu einem poetischen Symbol der Conditio humana. Franju, ein engagierter Künstler, Widerstandskämpfer und Moralist, will uns alle Bluttaten vor Augen führen, die überall auf der Welt in unserem Namen von denen vollbracht werden, die wir bezahlen, damit sie unsere dreckige Arbeit verrichten, sodass wir unsere Hände in Unschuld waschen und alle Verantwortung ablehnen können.› (Amos Vogel)» (Diagonale 2018)
«Aber ich muss etwas präzisieren, was von der Kritik nie beachtet wurde: Wenn ich etwas erreicht habe, dann, weil ich, anstatt wie es üblich war, Realismus durch Lyrik auszudrücken, die grausame und schwarze Lyrik eines Themas durch Realismus, Strenge und dokumentarische Wahrheit erweckt habe. Darin bestand die Neuheit des Films.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)


Drehbuch: Georges Franju, Jean Painlevé
Kamera: Marcel Fradetal
Musik: Joseph Kosma
Schnitt: André Joseph

Mit: Georges Hubert (Erzähler), Nicole Ladmiral (Erzählerin)

20 Min., sw, DCP, F/e


Georges Franju (Frankreich 1950)

1950 drehte Franju En passant par la Lorraine, (…) einen fesselnden 32-Minuten-Film über ein grosses Stahlwerk (…) an der Saar. Der Film sollte Guy Monnets Plan zur Modernisierung der französischen Industrie im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl feiern, aber Franju zeigte das Stahlwerk als hässlichen Eingriff in die idyllische Landschaft, und das Drehbuch beschreibt wie in Le sang des bêtes sehr sachlich die von den Hochöfen verursachte Umweltverschmutzung und Unfälle, bei denen Arbeiter ums Leben kommen oder fürs Leben gezeichnet sind.» (Erih.net)
«En passant par la Lorraine war in der Tat ein Auftragsfilm: Von den dreizehn Dokumentarfilmen, die ich gedreht habe, wurden zehn mithilfe von ministeriellen Zuschüssen produziert. Sie können als kulturelle Propagandafilme betrachtet werden. Ich habe mich immer gut mit diesen Themen arrangiert, vor allem, weil ihre strengen Vorgaben es mir erlaubten, ihre Grenzen zu sprengen.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)


Drehbuch: Georges Franju
Kamera: Marcel Fradetal
Musik: Joseph Kosma
Schnitt: André Joseph

Mit: Georges Hubert (Erzähler)

31 Min., sw, 16 mm, E


Georges Franju (Frankreich 1951)

«Dieser Film, der dritte in Franjus ‹Schlacht-Triptychon›, wie Raymond Durgnat es nennt, bestätigte seine Methode: Ziel ist es nicht, den Auftrag zu unterlaufen, sondern ihn beim Wort zu nehmen und ihn bis zu seinen letzten Konsequenzen zu verfolgen. Der Film ist ein Rundgang durch das Pariser Hôtel des Invalides und sein Museum. Der Kommentar, streng und genau beschreibend, wird durch die Erläuterungen der Museumsführer ergänzt. Er wird durch viele fast unmerkliche Modulationen in Michel Simons Stimme verfeinert: Er könnte uns auch zu einem erneuten Besuch von Père Jules’ Hütte in L’Atalante einladen. Wer ahnt schon den glühenden Anarchisten hinter dem Sprecher? Auf bedrohliche Wolken und Vogelschwärme, die für den Filmemacher den Wahnsinn symbolisieren, für den Pariser aber ein vertrauter Anblick sind, folgt der Rundgang durch das Museum, dessen Führer (...) allem Anschein nach wertfrei die Exponate erklären. Doch ihre sich wiederholenden Worte und sich reimenden Klänge erzeugen unheimliche Botschaften. Fiktive Elemente werden mittels Liedern oder Schlachtfeldgeräuschen über die Tonspur erzeugt. Ein Periskop dient einem doppelten Zweck: als Spiegel für eine elegante Dame, um ihr Erscheinungsbild zu überprüfen, und als Instrument eines mörderischen Angriffs. Am Ende erscheinen die ‹gueules cassées›, entstellte, mit Medaillen behängte Veteranen.» (Bernard Eisenschitz, ilcinemaritrovato.it)
«Der Film sollte als Ganzes mein Entsetzen über den Krieg zeigen, die erbärmliche und lächerliche Schönheit der Trümmer, der Uniformen, der Waffen und die Verstümmelungen der Opfer. Die erschreckende Offensichtlichkeit eines sinnlosen Todes. Sein schwarzer Humor sollte klarmachen, dass man nicht auf solche Wallfahrtsorte hereinfallen soll.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)


Drehbuch: Georges Franju
Kamera: Marcel Fradetal
Musik: Maurice Jarre
Schnitt: Roland Coste

Mit: Michel Simon (Erzähler)

22 Min., sw, Digital HD, F/e


Georges Franju (Frankreich 1953)

«Ein Walzer von Jean Wiener untermalt eine Montagesequenz, die zeigt, wie sich schwebender Staub über unseren Planeten legt. Staub ist sowohl unvermeidlich als auch schädlich: Der Mensch produziert natürlichen Staub bei seinen vom ihm selbst geschaffenen Prozessen, der Staub wendet sich gegen den Menschen. Im Mittelpunkt des Films steht die gefährlichste aller Staubarten, Siliziumdioxid, das schon in geringen Dosen eine gefährliche Lungenkrankheit, die Silikose, verursacht. Wenn Sand künstlich aus Strandkieseln hergestellt wird, ist er ‹nützlich für die Industrie, aber gefährlich für den Menschen› (...). Das einzige Gegenmittel, das der Auftraggeber des Films, das Institut national de la sécurité, 1954 vorschlug, war das Tragen einer Schutzmaske. Sie sollte ‹die kollektiven Schutzmassnahmen ergänzen›, ohne dass diese näher erläutert worden wären. In der Porzellanindustrie haben die Arbeiter keinerlei Schutzausrüstung. Bei ihrer Arbeit entsteht Staub, ‹der entweder in das Belüftungssystem oder in die Lungenbläschen gelangt›. Ein Mann ‹fühlt sich vielleicht gesund, aber die Silikose hat sich bereits ausgebreitet, wie die Röntgenaufnahmen zeigen werden›. Die Bergleute bedecken ihr Gesicht zum Schutz mit Talkumpuder: ‹Les yeux sans visage›. Die Modernisierung bekämpft das, was sie geschaffen hat, und bringt Staublandschaften hervor. Eine Atombombe explodiert; der Kommentar erzählt uns, wie der Fallout Partikel in alle Richtungen schleudert. ‹Unsere Zukunft trägt dieses Krebsgeschwür in sich.› (Freddy Buache)» (Bernard Eisenschitz, ilcinemaritrovato.it)
«Das Konzept, wie es mir vorgelegt worden war, gefiel mir nicht, da es nicht nur unausgegoren war, sondern auch auf Optimismus ausgerichtet. Da ich den Sicherheitsaspekt nicht von der Gefahr trennen konnte, begriff ich schnell, dass ich einen Film über das Thema Sicherheit drehen sollte, weil es viele schwere Unfälle gab – und mir wurde klar, dass ich nicht beruhigen, sondern beunruhigen musste. Der Film fesselte mich endgültig, als ich die Chance erkannte, die tödlichen Gefahren anzuprangern, denen sich einige Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen unvermeidlich ausgesetzt sahen und wo die Silikose-Gefahr so gross war, dass die Sozialversicherung sie anscheinend nicht mehr anerkennen wollte.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)


Drehbuch: Georges Franju
Kamera: Jacques Mercanton
Musik: Jean Wiener
Schnitt: Roland Coste

Mit: Georges Hubert (Erzähler)

22 Min., sw, 16 mm, F/d

Spieldaten


Vergangene Vorstellungen:
Mo.,
21.2.2022
19:15
So.,
27.2.2022
15:00