Wie in seinen Langfilmen vermischt sich auch in Franjus kurzen Porträts Dokumentarisches mit Fiktion auf vielschichtige Weise. In seinem Film über den von ihm so verehrten Georges Méliès wird der Filmpionier von keinem anderen als dessen eigenem Sohn gespielt, und auch Méliès’ Witwe tritt selbst im Film auf. Der Film ist Dokumentation, melancholische Liebeserklärung und Reenactment in einem. Auch bei Mon chien, Franjus erstem Spielfilm, ist ungewiss, was hier echt ist und was Fiktion, ist doch die Hauptfigur kein trainierter Schauspieler, sondern ein Deutscher Schäferhund. In Monsieur et Madame Curie werden Spielszenen um das berühmte Wissenschaftspaar mit dokumentarischen Aufnahmen von Experimentalanordnungen kombiniert. In Rendez-vous avec Fantômas bringt Franju schliesslich Marcel Allain, den Koautor und Miterfinder der legendären Verbrecherfigur Fantômas, vor die Kamera, und zwar ganz ohne Maske. Franju, der seit seiner Jugend von den Fantômas-Romanen besessen, hat sich immer gewünscht, seine eigene Kinoversion des Stoffes machen zu können. Sein Kurzfilm ist somit die Erfüllung dieses alten Traums. Eine Rückkehr zu den Anfängen ist auch La première nuit, der in jener Pariser Metro gedreht wurde, die Franju bereits in seinem allerersten Kurzfilm besucht hatte. (Johannes Binotto)
Gesamtdauer: 117 Min.
«Dieser Kurzfilm von Georges Franju aus dem Jahr 1952 ist eine Biografie des Illusionskünstlers Georges Méliès. Die Witwe von Méliès, Jeanne d’Alcy, spielt darin sich selbst und ihr Sohn André seinen eigenen Vater. Le grand Méliès ist wie Franjus Louis-Feuillade-Hommage Judex eine aufschlussreiche Hommage an eines der grossen Vorbilder des Regisseurs.» (criterionchannel.com)
«Ich lernte Méliès zusammen mit Langlois kennen, als er im Altersheim Château d’Orly war. Trotz des sehr schönen Parks gefiel es ihm dort nicht besonders gut, aber seine natürliche Fröhlichkeit half ihm zumindest, die Ungerechtigkeiten des Schicksals, von denen er heimgesucht worden war, vor den Besuchern zu verbergen. Wenn er über die Umstände seines Ruins sprach, wurde er manchmal wütend, kehrte aber schnell mit einem Kalauer und einer diabolischen Grimasse zu den glücklichen Zeiten der Illusionen und des Ruhms zurück. (...) Man hat mir manchmal den melancholischen Ton meines Films vorgeworfen. Er rührte von meiner Erinnerung an einen leidenden Méliès her.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)
Drehbuch: Georges Franju
Kamera: Jacques Mercanton
Musik: Georges Van Parys
Mit: Jehanne d'Alcy (sie selbst als Mme Georges Méliès/Erzählerin), André Méliès (Georges Méliès, sein Vater), Marie-Georges Méliès (sie selbst/Erzählerin), François Lallement (Erzähler)
31 Min., sw, 35 mm, F/e
Eine Familie, die in einem gutbürgerlichen Haus in einem Pariser Vorort wohnt, fährt in den Urlaub. Auf dem Weg setzen die Eltern Pierrot, den Schäferhund ihrer kleinen Tochter, im Wald aus. Der Rest des Films zeigt die Versuche des Hundes, seine Familie wiederzufinden. Schliesslich wird er von Hundefängern aufgegriffen …
«Die Realisierung dieses Films hat mich auf den Weg der Sentimentalität geführt. Ich bedauere das. Das kleine Mädchen, das den Hund liebte und untröstlich ist über seinen Verlust, war ‹zu viel›. Ich bin in die Falle gelaufen, vor der ich mich immer gehütet hatte. Die zentrale Figur war hier der Hund. Das Drama seiner Aussetzung hätte nicht durch die weinenden Augen des kleinen Mädchens gezeigt werden sollen. Zwei Opfer, der Hund und das Kind, waren zu viel. Vor allem, da die Tragödie des Verlassenwerdens die Einsamkeit des Verlassenen ist.
Allerdings habe ich die entscheidende Szene nicht gedreht: den Tod der vergasten Hunde. Ich wollte diese Gräueltat nicht sehen. Und doch entsprach diese Szene dem Thema und dem Ton meiner vorherigen Kurzfilme.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)
Drehbuch: Georges Franju, Jacques Prévert
Kamera: Georges Delaunay, Jean Penzer
Musik: Henri Crolla
Schnitt: Suzanne Sandberg
Mit: Roger Pigaut (Erzähler), Jacqueline Lemaire (das Mädchen), Rex (der Hund)
25 Min., sw, Digital HD, F/e
«Eine Hommage an die Wissenschaftler, die bei der Erforschung der Radioaktivität wegweisend waren. Franju nutzt eine dokumentarische Rekonstruktion mit Schauspielern, um die wissenschaftlichen Methoden des Ehepaars Curie und die prekären Bedingungen, unter denen es seine weitreichenden Forschungen betrieb, zu veranschaulichen.» (San Sebastian International Film Festival 2015)
«Ursprünglich habe ich die Arbeit an diesem Film wegen des dokumentarischen Interesses an einer wissenschaftlichen Entdeckung aufgenommen, die aufgrund ihres Umfelds und ihrer Tragweite atemberaubend ist. Aber die weitgehend unbekannte Biografie ‹Pierre Curie par Madame Curie›, die mir als Leitfaden diente, hatte mich gelehrt, dass es nicht nur um eine gemeinsame Zeit ging, die die beiden mit leidenschaftlicher Forschungsarbeit verbracht hatten, sondern auch um eine einfache und schöne Liebesgeschichte.» (Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)
Drehbuch: Georges Franju, nach dem Buch «Pierre Curie» von
Kamera: Marcel Fradetal
Schnitt: Roland Coste
Mit: Nicole Stéphane (Marie Curie), Lucien Hubert (Pierre Curie)
14 Min., sw, 16 mm, F/e
«Der Regisseur Georges Franju besucht Marcel Allain, der zusammen mit Pierre Souvestre den Helden Fantômas erfunden hat. Allain erzählt von der Entstehung der Serie auf Wunsch des Verlegers Arthème Fayard, von den Bedingungen, unter denen das Drehbuch entstanden ist, und weitere Anekdoten. Er demonstriert das Wachswalzen-Diktiergerät, das er benutzte, um die Veröffentlichungszeiten zu verkürzen – zweiunddreissig Bände in zwei Jahren.» (film-documentaire.fr)
«Wenn ich auch nicht das Vergnügen hatte, mit Fantômas ins Geschäft zu kommen, so hatte ich doch die Ehre, seinen Vater kennenzulernen. Marcel Allain erzählte uns von seinen Erinnerungen, in deren Labyrinth er manchmal mit seinem Helden verschmolz. Durch die Lebhaftigkeit seiner Erzählung, die Korrektheit seiner Sprache und die Euphorie, mit der er in lüsternem Horror watete, war Marcel Allain sehr lustig.»
(Georges Franju: Impressions et aveux, L'Age d'Homme 1977)
Mit: Marcel Allain, Georges Franju
24 Min., sw, Digital HD, F/d
«La première nuit geht auf eine Idee der Sängerin, Schauspielerin und Autorin Marianne Oswald zurück, die (zusammen mit Rémo Forlani) an dem Drehbuch für Georges Franjus ersten vollständig fiktionalen Kurzfilm arbeitete. Der Protagonist ist ein zehnjähriger Junge (Pierre Devis), der jeden Tag gewissenhaft von zu Hause zur Schule und zurückgefahren wird. Eines Morgens sieht er durch das Autofenster ein wunderschönes blondes Mädchen (Lisbeth Persson) aus der U-Bahn steigen. Am Abend, als der Unterricht vorbei ist, überlistet der Held seinen Chauffeur und folgt dem Mädchen in die U-Bahn. Ihr Zug fährt jedoch ab, bevor er einsteigen kann. Der Junge wandert allein von Station zu Station, bis die Metro ihre Türen schliesst. Er schläft ein und sieht das Mädchen, das viermal hintereinander an verschiedenen Stellen der U-Bahn auftaucht und wieder verschwindet. (...) La première nuit ist eine ergreifende Abhandlung über Träume, erste Liebe und die Beziehung zwischen Kino und Kindheit.
Franju war ein Freund und Bewunderer des französischen Krimiautoren-Teams Pierre Boileau und Thomas Narcejac, das an den Drehbüchern von Les yeux sans visage und Pleins feux sur l’assassin (1961) mitwirkte und bereits die Vorlage für Hitchcocks Vertigo (1958) geliefert hatte. Auf Franjus ausdrücklichen Wunsch hin schrieben die beiden folgendes Epigramm für Franjus ersten Kurzspielfilm La première nuit: ‹Es bedarf nur ein wenig Phantasie, damit die gewöhnlichsten Gesten plötzlich eine beunruhigende Bedeutung erlangen und unsere alltägliche Umgebung eine fantastische Welt hervorbringt. Es liegt bei jedem von uns, die Ungeheuer und Feen zu erwecken ...›» (mubi.com)
Drehbuch: Marianne Oswald, Rémo Forlani, Georges Franju
Kamera: Eugen Schüfftan
Musik: Georges Delerue
Schnitt: Henri Colpi, Jasmine Chasney
Mit: Pierre Devis (der Junge), Lisbeth Persson (das Mädchen)
23 Min., sw, DCP, F